Wirtschaft

Angelika Niebler ist dafür, das Atomkraftwerk Isar 2 noch weitere fünf Jahre zu betreiben. (Foto: dpa/Armin Weigel)

06.05.2022

"Der Ukraine-Krieg hat alles verändert"

Angelika Niebler, die Vorsitzende der CSU-Europagruppe und des Wirtschaftsbeirats der Union, fordert mehr Augenmaß beim Green Deal der EU

Um mindestens 55 Prozent soll in der EU der Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 im Vergleich zu 1990 reduziert werden. Der Zwang, unabhängig von russischen Energie-Rohstoffen zu werden, müsse im Rahmen des Green Deal auch zum beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien führen.

BSZ: Frau Niebler, erst Corona-Krise dann Ukraine-Krieg – wen soll da „Fit for 55“ interessieren?
Angelika Niebler: Der Green Deal der EU muss weiter alle interessieren, denn Klimaschutz bleibt angesichts des Klimawandels natürlich ein ganz wichtiges Thema. Auch die nächste Flut wird kommen. Darauf sollten wir besser vorbereitet sein. Aber Sie haben recht: Der Ukraine-Krieg ändert alles! Wir müssen jetzt alle Vor-haben auf den Prüfstand stellen, vieles neu justieren und langfristige oder mittelfristige Prioritäten neu setzen! Wir haben uns in der Europäischen Union ein Klimagesetz gegeben – als erste Region weltweit! – denn wir wollen bis 2050 klimaneutral werden. Die Vorgaben des Pakets „Fit für 55“ sollen dieses Ziel in konkrete politische Initiativen umsetzen und hierfür den regulatorischen Rahmen vorgeben.

BSZ: Was sind die vordringlichsten Zielvorgaben?
Niebler: Es gibt sie zur Reduzierung von CO2-Emissionen für alle Sekto-ren: Industrie, Energie, Verkehr, Landwirtschaft. Die EU-Mitgliedstaaten sollen schneller alle erneuerbaren Energien ausbauen und die Energieeffizienz hochfahren, der Verkehr soll durch die Umstellung auf Elektromobilität und den Einsatz alternativer Kraftstoffe klimaneutraler werden. Mehr Elektromobilität erfordert auch schnelleren Ausbau von Ladestationen und Netzinfrastruktur. Auch in die Renovierung von Gebäuden muss stärker investiert werden, um nur einige Beispiele aus dem Paket „Fit für 55“ zu nennen. Für mich ist wichtig, dass wir als Gesetzgeber dafür nicht die Technologien vorgeben. Dies ist Sache der Forschung, Entwicklung und des Marktes.

BSZ: Was ändert Putins Krieg gegen die Ukraine an den Klimaprogrammen Europas?
Niebler: Wir sind jetzt im Kriegs- und im Krisenmodus zugleich. Da muss jetzt Versorgungssicherheit unser oberstes Ziel sein. Hierzu müssen wir auch Kompromisse eingehen, ohne die langfristig richtigen Ziele aus den Augen zu verlieren. Wir erkennen doch aktuell an den direkten Auswirkungen dieses Krieges und den bereits absehbaren Folgeschäden nach einem erhofften Frieden manchen Handlungsbedarf noch deutlicher. Vor allem kurz- wie langfristige Energieversorgung wird immer mehr zum Kernthema in Bayern wie in ganz Europa. Energie und Lebensmittelpreise explodieren. Wir müssen jetzt ohne Tabus schnell reagieren und pragmatisch handeln!

Krisenmanagement ist Sache der Bundesregierung

BSZ: Die Ziele und was „Wir müssen und wir sollen!“ sind nicht ernsthaft bestritten. Aber: Wer muss und wer soll das alles tun oder anordnen?
Niebler: Das Krisenmanagement ist zunächst Sache der Bundesregierung. Aber auch auf europäischer Ebene, in den Ländern, Bezirken, Landkreisen und Kommunen gibt es Handlungsbedarf, wie wir sehen. Ich bin beeindruckt und dankbar, wie alle zusammenstehen in dieser Krisenzeit, wie viele Menschen helfen und andere unterstützen. Unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es große Geschlossenheit. Von der Bundesregierung erwarte ich aber mehr Führung und den Mut, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um etwa Stromversorgung auch bei Ausfall von russischem Gas sicherzustellen. Warum kann man die letzten Kernkraftwerke jetzt nicht zur Not länger am Netz lassen?

BSZ: Geht dann von Atomstrom über Dieselverbot, Rinderzucht, Biogas und Tempolimit der längst durchgekaute Meinungsstreit quer durch Parteien wieder von vorne los?
Niebler: Es darf keine Denkverbote geben, der brutale Angriffskrieg Putins stellt alle Gewissheiten infrage. Die Sicherheit der Energieversorgung treibt uns alle um. Wir diskutieren unter Kolleginnen und Kollegen im EU-Parlament seit Wochen intensiv, ob wir neben den vielen Wirtschaftssanktionen einen vollen Lieferstopp von Gas, Öl und Kohle aus Russland brauchen. Bei einem schnellen Embargo würden wir ei-nen sehr hohen Preis zahlen müssen. Das müssen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern dann auch offen sagen!

BSZ: Prognosen der Experten über die Konsequenzen eines Energieembargos gehen weit auseinander, weil es keinen Präzedenzfall dafür gibt.
Niebler: Aber eines ist sicher: Die Auswirkungen auf ganze Industriebranchen und unsere Haushalte, auf Betriebe und Arbeitsplätze wären gewaltig und bloß mit „Frieren für die Freiheit“ würde es nicht getan sein!

Keine neuen Abhängigkeiten

BSZ: Die Bundesregierung ist dabei, nach Alternativen zu Kohle, Öl und Gas aus Russland zu suchen. Das reicht von zweifelhaften Öl-Staaten wie Katar, Iran oder Venezuela bis zu umstrittenem Fracking-Gas aus den USA. Was raten Sie jetzt zu tun?
Niebler: Wir dürfen uns nicht in neue Abhängigkeiten begeben wie von Russland. Wir müssen mit mehr Partnern neue Lieferverträge schließen, den europäischen Binnenmarkt mehr nutzen und auch alle eigenen Ressourcen hochfahren – von der Wasserkraft bis zur Nuklearenergie. Von russischer Energie können wir bei Kohle und Öl gleich aussteigen und bei Gas so bald wie möglich. Darum kann ich nicht verstehen, warum die Bundesregierung nicht in der aktuellen Notfallsituation vordringlich die drei AKW, die bis Jahresende planmäßig heruntergefahren werden müssen, noch länger am Netz lässt: mit neuen Brennstäben für eine Übergangszeit von fünf Jahren. Die Regierung muss jetzt entscheiden und sagen: „Laufen lassen!“ sowie die Rahmenbedingungen vorgeben!

BSZ: Aber mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien bis zu maximaler Stromleistung kann es schon noch länger dauern. Was kann man besser machen?
Niebler: Im EU-Programm „Fit for 55“ finden sich viele gute Vorschläge für die Beschleunigung des Aus-baus von erneuerbaren Energien. Es fehlt ja nicht am Geld, sondern an endlos dauernden Planungsverfah-ren. Da muss die Bundesregierung endlich in die Puschen kommen! Ein Kollege von mir hat vorgeschlagen, Projekte von öffentlichem Interesse auszuweisen und dafür den Planungsprozess abzukürzen. Das ist doch eine gute Idee!

BSZ: Liegt nicht der zögerliche Ausbau der Windräder bisher auch am Widerstand der Bevölkerung? Die 10H-Reglung Bayerns besagt doch nur, dass jede Gemeinde entscheiden kann, wo die Bürger 200 Meter hohe Windräder optisch ertragen und wo nicht?
Niebler: So ist es. Die Akzeptanz der Bevölkerung ist für mich zentral. Das ist auch Sinn und Zweck der 10H-Regel in Bayern. Diese besagt nur: Nicht über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden und einfach durchregieren von oben!

Mehrheit für Windräder

BSZ: Also die Bürger an der Entscheidung oder sogar an der Stromnutzung beteiligen?
Niebler: Ja, genau! Ich habe das beste Beispiel vor der Haustüre im Landkreis Ebersberg. In allen politischen Gremien, in der Presse, in vielen Familien ist intensiv darüber diskutiert worden, ob wir im Ebersberger Forst fünf Windräder errichten sollen oder nicht. Im Bürgerentscheid gab es dann eine Mehrheit für die Windräder. Selbst die Bürgerinnen und Bürger, die dagegen waren, können jetzt nicht sagen, es sei von oben über ihre Köpfe hinweg entschieden worden. Das erhöht die Akzeptanz.

BSZ: Bayern ist von Alpen und Mittelgebirgen quasi umzingelt. Da liegt es vielerorts nicht an der ästhetischen Abneigung gegen Windräder, sondern schlicht an weniger Windkraft.
Niebler: Dann muss man nach Alternativen suchen: Bayern ist ein Sonnenland. Photovoltaik und Solarenergie machen hier Sinn, wie auch weiterer Ausbau der Wasserkraft oder Förderung von Biomasse und Biogas.

BSZ: Gibt es da wieder ideologische Widerstände und ökologische Prestigekämpfe wie die Inszenierungen gegen den Bau des letzten geplanten Kraftwerks an der Donau?
Niebler: Nur dagegen zu sein, reicht halt nicht! Ideologische Debatten helfen uns jedenfalls nicht weiter.

Auf dem Land ist man auf das Auto angewiesen

BSZ: Ein weiteres heikles Thema ist, was Bürger in den Städten gern ihren Mitbürgern auf den Dörfern zu-muten. Auf Anhöhen im Stadtbereich von München, Augsburg oder Nürnberg stehen weder Atommeiler noch Windräder. Alle Belastungen aufs Land und den Strom für die Stadt?
Niebler: Als gebürtige Münchnerin möchte ich auch keine Windräder über der Isar und auf der Schwanthaler Höhe! Aber im Ernst: In der Stadt kann ich leicht sagen: Fahrt weniger mit dem Auto. Auf dem Land bin ich darauf angewiesen, nicht nur die Pendler, sondern auch Hausfrauen oder Rentner zum Einkaufen oder zum Arzt und Apotheker. Das Verhältnis Stadt-Land spielt eine große Rolle für die Akzeptanz.

BSZ: Führen in solchen Debatten nicht statt betroffener Menschen meist konkurrierende Verbände und superkluge sogenannte „Aktivist*innen“ das große Wort?
Niebler: Bei diesen Themen sind in der Tat immer viele Verbände unterwegs: Hier Klimaschützer für Windräder – da Artenschützer dagegen; Bauernverband dafür, Naturschutzbund dagegen et cetera. Über 60 Prozent aller Klagen werden nach meiner Kenntnis von Umweltverbänden geführt. Verbände haben nicht nur Rechte, sondern auch Verantwortung für die gesamte Gesellschaft. Daran muss man sie gelegentlich erinnern, gerade jetzt wieder in Zeiten des Ukraine-Krieges.

BSZ: Dieser Vernichtungskrieg bringt außer Energieknappheit auch Probleme für Landwirtschaft und Ernährung weit über Europa hinaus. Erfordert das auch ein Überdenken der EU-Agrarpolitik?
Niebler: Ja. Die Agrarreform, die nächstes Jahr in Kraft tritt, dürfen wir nicht als solche infrage stellen, denn mehr Ökologie in der Landwirtschaft ist ja richtig. Aber auch insoweit gilt: Jetzt mehr Flächen stillzulegen, macht keinen Sinn. Zwar ist di Lebensmittelversorgung in der EU nach den Prognosen gesichert. Aber wir haben auch eine Verantwortung für Afrika und andere Länder in der Welt, die von Getreideexporten der Ukraine abhängen. Wir dürfen nicht in einen Engpass hineinlaufen. Die Ukraine ist bekanntlich die Kornkammer Europas, aus der zum Großteil Weizen, Mais und Ölsaaten kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Frühjahr in verwüsteten Kriegsgebieten ausgesät werden kann. Also müssen wir unsere Ressourcen so gut wie möglich nutzen. Das erfordert aber, dass wir nicht weiter die Stilllegung von Brachland bezahlen!

Lebensmittelversorgung wird schwieriger

BSZ: Einige CSU-Bezirke haben bereits gefordert, keine neuen Flächen stillzulegen und bereits stillgelegte wieder zum Anbau freizugeben. Sind Sie da auch dafür?
Niebler: Wir von der EVP haben hier eine Korrektur gefordert. Wenn die Lebensmittelversorgung schwieriger wird, weil wesentliche Lieferungen aus der Ukraine und aus Russland ausfallen, können wir nicht gleichzeitig dafür sein, mehr Anbauflächen stillzulegen! Das heißt ja nicht, dass wir uns von unseren Zielen verabschieden. Wir haben die EU-Agrarpolitik gemeinsam beschlossen. Die wird nächstes Jahr in Kraft treten und natürlich gehört mehr Ökologie in die Landwirtschaft. Daran halten wir fest. Aber die Verpflichtung, nochmals 4 Prozent der Anbauflächen aus der Produktion zu nehmen, wie dies die neue Agrarpolitik vorsieht, das sollte jetzt erst ein paar Jahre später verbindlich sein.

BSZ: Dafür brauchen die Bauern mehr Dünger und Pflanzenschutzmittel. Wenn alle Verbote so bleiben, rentiert sich dann die Ernte noch?
Niebler: Darum muss man auch bei der Nutzung von ökologischen Vorrangflächen überlegen, ob man in dieser Krisensituation den Einsatz von mehr Pflanzenschutzmittel zulassen soll. Ich bin sehr froh, dass nicht nur unsere Fraktion dazu eine Resolution eingebracht hat, sondern auch in der Kommission und bei einigen Mitgliedstaaten beraten wird, die Regeln dementsprechend anzupassen. Was geht und was nicht, muss aber sofort entschieden werden! Die Bauern säen ja die Frühsaa-ten bereits jetzt aus und nicht erst im Juni. Wir haben dafür von der Kommission auch weitere Fördermittel für die Landwirte gefordert.

BSZ: Die Fördermittel werden aber inzwischen auch knapp. Die 100 Milliarden Schulden, die etwa von der Bundesregierung für Nachrüstung der Bundeswehr aufgenommen werden, stehen doch auch nicht für Landwirtschaft und Klimaschutz zur Verfügung?
Niebler: Richtig. Budgetänderungen in Berlin muss der Bundestag be-schließen. Mittel einfach umwidmen geht nicht! Für die Unterstützung der Landwirte gibt es auch europäi-sche Mittel. Für den Wiederaufbau nach Corona haben wir den Fonds von 750 Milliarden Euro aufgelegt.

BSZ: Das ist hilfreich, geht aber alles auf Schulden. Da werden doch unsere Enkel noch lange daran hinzahlen?
Niebler: Da haben Sie natürlich recht: Ja, wer zahlt das alles? Wir machen zurzeit überall Sonderfonds und -programme auf, aber die Mittel, die wir am Kapitalmarkt aufnehmen, sind nichts anderes als Schulden, die den nächsten Generationen bleiben. Wie wir die wieder erwirtschaften, wird eines der nächsten Kapitel sein, mit denen wir uns kritisch auseinan-dersetzen müssen.
(Interview: Hannes Burger)

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