Wirtschaft

Besonders heftig ist die aktuelle Inflation bei den Lebensmittel- und bei den Spritpreisen spürbar: mehr als 10 Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahrs. Davon betroffen sind innerhalb der Eurozone vor allem Deutschland, Österreich, Skandinavien und die Beneluxländer. Die südeuropäischen Mitgliedstaaten merken es wesentlich weniger. Für die Europäische Zentralbank ist das ok. (Foto: dpa/Jens Büttner)

01.10.2021

"Die Büchse der Pandora ist geöffnet"

Der Münchner Wirtschaftsprofessor Oliver Hülsewig über die steigende Inflation und den drohenden Weg in eine europäische Schuldenunion

Deutschland gehört aktuell zu den Ländern in der EU mit der höchsten Inflationsrate. Durch den 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds der EU könnte sich das sogar noch verstärken. Denn wenn der dadurch erhoffte Anstieg der Produktivität in den südlichen Euro-Ländern ausbleibt, muss die Bundesrepublik für die Kredite einstehen.

BSZ: Herr Hülsewig, wir haben aktuell bereits die höchste Inflationsrate seit Einführung des Euros – wird das so weitergehen?
Oliver Hülsewig: Die Inflationsrate hat heuer rasant zugenommen. Sie lag im August bei 3,9 Prozent, nachdem sie im Januar noch 1 Prozent betrug. Für das gesamte Jahr 2021 tippe ich auf eine Inflationsrate zwischen 3 und 4 Prozent.

BSZ: Warum steigt das so rasant?
Hülsewig: Das liegt vor allem daran, dass die Erzeugerpreise stark angestiegen sind. Wir haben Materialknappheit, die einhergeht mit Störungen der Lieferketten. Die Preise für Rohstoffe haben zugenommen. Die Transport- und Frachtkosten sind gestiegen.

BSZ: Wie stark müssen sich die Normalverdiener davor sorgen?
Hülsewig: Aktuelle Prognosen legen nahe, dass sich die Inflation im nächsten Jahr wieder etwas abflachen wird. Ein gravierendes Problem ist aber, wenn sich die Inflationserwartungen nach oben anpassen. Umfragen der Bundesbank zeigen, dass die Privatpersonen immer stärker befürchten, dass die Inflation zunehmen wird. Das wiederum kann sich dann in allen Verträgen reflektieren, die vorausschauend sind – beispielsweise Lohnkontrakte. Die Nominallöhne könnten aufgrund höherer Inflationserwartungen steigen. Und wenn der Lohnanstieg über dem Produktivitätszuwachs liegt, werden die Unternehmen versuchen, den Kostenanstieg in Form von höheren Preisen an die Kunden weiterzugeben. Eine Zunahme der Inflation wäre die Folge.

Lohnsteigerungen durchsetzen

BSZ: Das heißt, wer nicht über die Druckmittel der Lokführergewerkschaft GdL verfügt, muss sich darauf einstellen, dass alles teurer wird?
Hülsewig: Wer in seiner Branche keine Lohnsteigerungen durchsetzen kann: ja. Für alle anderen bedeutet es eine Lohn-Preis-Spirale: Alles wird zwar teurer, aber man verdient auch mehr. Sparer, die ihr Vermögen in Form von Geld halten, würden jedoch durch die Entwertung der Kaufkraft zunehmend verlieren.

BSZ: Dieses Problem scheint keinem der drei Kanzlerkandidaten von SPD, Union und Grünen Sorgen zu bereiten – zumindest wurde es in den TV-Triellen nicht thematisiert.
Hülsewig: Das stimmt. Sie sind allerdings auch nicht unmittelbar für die Preisstabilität zuständig; das ist die Europäische Zentralbank. Aber sie sollten darauf schon eingehen, auch aufgrund der Bedeutung des Geldvermögens für die Altersvorsorge.

BSZ: Und die Deutschen als Sparer-Nation sind innerhalb der Euro-Zone besonders von der Inflation betroffen – was aber die meisten Bundesbürger nicht groß zu tangieren scheint.
Hülsewig: Für einen Großteil der Bevölkerung mag die Inflation aktuell vielleicht noch nicht richtig spürbar sein, sodass es ihnen nicht akut erscheint – anders als beispielsweise die Problematik des Klimawandels. Mich hat auch überrascht, dass dieses Thema in den Medien noch kaum thematisiert wird. Sollte sich die Inflation fortsetzen, dürfte sich dies aber ändern. Ottmar Issing, ehemaliger Chefvolkswirt der EZB, weist darauf hin, dass stabiles Geld ein Fundament der Sozialen Marktwirtschaft ist.

Euroraum ist entscheidend

BSZ: Täuscht der Eindruck, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Inflation sogar mit einem gewissen Wohlwollen sieht?
Hülsewig: Das würde ich so nicht sagen. Die EZB hat kürzlich ihre geldpolitische Strategie überarbeitet und betont, dass Preisstabilität das vorrangige Ziel ist. Sie verknüpft dies mit einem Inflationsziel von 2 Prozent. Die Geldpolitik orientiert sich an der Inflationsrate im Euroraum, nicht an der deutschen.

BSZ: Aber da liegen wir doch schon deutlich drüber?
Hülsewig: Im gesamten Euroraum noch nicht ganz, beziehungsweise erst in den vergangenen zwei Monaten. In einigen Euro-Ländern liegen die Inflationsraten aber auch deutlich darunter, beziehungsweise fiel der Preisanstieg seit Jahresbeginn nicht so rasant aus.

BSZ: Wie können die Inflationsraten der einzelnen Mitgliedsländer in einer Währungsunion eigentlich so weit auseinanderklaffen?
Hülsewig: Das kann an den unterschiedlichen wirtschaftlichen Dynamiken liegen. Die Krisenländer weisen derzeit ein geringeres Wirtschaftswachstum auf. In Griechenland beispielsweise liegt die aktuelle Inflationsrate bei 1,2 Prozent, in Portugal bei 1,3 Prozent. Eine Divergenz bei den Inflationsraten beobachten wir aber schon länger.

BSZ: Und das ist auch gut so?
Hülsewig: Für die Geldpolitik der EZB stellt das kein Problem dar, wenn die Unterschiede nicht allzu gravierend sind. Es ist sogar gewünscht für Länder, die einen wirtschaftlichen Aufholprozess absolvieren sollen. Ausgeprägte Divergenzen bei den Inflationsraten sind jedoch problematisch.

Hetrogene Konjunkturzyklen

BSZ: Länder mit einer aktuell hohen Inflationsrate haben dann eben Pech?
Hülsewig: Die Heterogenität der Konjunkturzyklen der Euro-Mitgliedsländer ist ein Phänomen, das seit Beginn der Währungsunion zu beobachten ist. Eine einheitliche Geldpolitik läuft da Gefahr, für einzelne Mitgliedsländer nicht adäquat zu sein. Für Länder mit einer derzeit hohen Inflationsdynamik dürfte der aktuelle geldpolitische Kurs zu expansiv sein. Generell ist eine Synchronisierung der Konjunkturzyklen wünschenswert.

BSZ: Ist aber in mehr als 20 Jahren Euro nicht gelungen.
Hülsewig: Nein, bisher nicht.

BSZ: Also gibt die EU munter weiter Geld aus in der Hoffnung, es möge sich irgendwann ändern?
Hülsewig: Primär entsteht wirtschaftliches Wachstum durch Innovationen. Wenn der Staat mehr Geld ausgibt, dann mag dies vorübergehende Impulse freisetzen. Höhere Staatsausgaben sind auf mittlere und längere Sicht jedoch kein Wachstumstreiber. Insofern glaube ich nicht, dass der 750 Milliarden Euro starke Wiederaufbaufonds der EU das Wachstum in der Euro-Zone nachhaltig anstoßen wird.

BSZ: Aber mit genau diesem Argument hat es die Bundesregierung doch den Deutschen verkauft?
Hülsewig: Aus Sicht des Marketings ist das ein ansprechendes Argument. Wir wissen aber nicht, wie die Länder das Geld letztlich verwenden werden.

BSZ: Für Umweltschutzmaßnahmen, Infrastruktur und Digitalisierung – heißt es.
Hülsewig: Die Mittel des Wiederaufbaufonds sollen über EU-Programme an die Mitgliedstaaten weitergereicht werden. Ich möchte nicht ausschließen, dass ein Teil dieser Programme erfolgreich bei der Umsetzung der angekündigten Ziele ist. Es bestehen aber Zweifel, dass ein wirksamer Mitteleinsatz sichergestellt ist, der zudem auch wirtschaftlich ist. Letztlich entscheiden die nationalen Parlamente über die Verwendung der Gelder. Sanktionen sind meines Wissens nach nicht vorgesehen. Neu ist aber auch, dass mit diesem Fonds zum ersten Mal die EU selbst Geld am Kapitalmarkt aufnimmt. Und damit kostet sie, bildlich gesprochen, von der verbotenen Frucht. Das war ihr bislang verwehrt, alle Ausgaben mussten durch die Einnahmen gedeckt sein – und dazu zählten explizit nicht die Fremdmittel.

Weg in die Transferunion

BSZ: Könnte sich das wiederholen?
Hülsewig: Ja, es ist zu befürchten, dass die EU auch zukünftig Gelder am Kapitalmarkt aufnehmen wird, um diese in Form von Transfers an die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. Die Büchse der Pandora wäre damit geöffnet: der Weg in die Transferunion.

BSZ: Das bedeutet dann was für die Zukunft?
Hülsewig: Dass der deutsche Bundestag sein wichtigstes Recht verlieren könnte: die Budgethoheit. Deutschland würde in Zukunft für die Schulden anderer Länder mit aufkommen müssen. Dass genau das nicht passieren würde, war übrigens eines der Versprechen, mit denen der damalige CSU-Bundesfinanzminister Theo Waigel bei den Deutschen dafür warb, die Mark durch den Euro zu ersetzen. Langfristig kann das auch dazu führen, dass die Bonität von Deutschland an den Kapitalmärkten herabgestuft wird und höhere Risikoprämien zu entrichten wären.

BSZ: Was machen also Menschen, die Angst um ihr Erspartes haben: Sparbücher und Lebensversicherungen verlieren an Wert und der Immobilienmarkt ist völlig überhitzt?
Hülsewig: Eine gute Frage. Insbesondere Menschen mit geringerem Einkommen sparen in Form von Geld, da sie kaum die Möglichkeiten haben, ihr Vermögen breiter gestreut anzulegen. Sollte die Inflation weiter zunehmen, werden vor allem sie davon massiv betroffen sein.
(Interview: André Paul)

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