Wirtschaft

DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy sprach in Nürnberg über die Folgen von Leiharbeit. (Foto: Schweinfurth)

10.06.2011

„Gute Arbeit wird mehr und mehr durch prekäre verdrängt“

DGB-Arbeitsmarktexperte: In Deutschland boomt die prekäre Beschäftigung

In keinem anderen europäischen Land ist der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren so stark angestiegen wie in Deutschland. „Sogar die wirtschaftsnahe OECD, die weit weg ist von gewerkschaftlichen Positionen, hat festgestellt, dass Einkommensungleichheit und Verarmungsrisiko in keinem Industrieland so stark zugenommen haben wie in Deutschland“, sagt Wilhelm Adamy, Arbeitsmarktexperte des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Verwaltungsratsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, beim „Talk im Uhrenhaus“ des DGB Mittelfranken in Nürnberg.
Lag die Quote der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in der Bundesrepublik 1992 noch bei 77,1 Prozent, ist sie 2010 auf 68,5 Prozent gesunken. „Das hat negative Folgen für die Finanzierungsbasis des Sozialstaats“, erklärt der DGB-Experte.
Laut Adamy bedeutet diese Entwicklung, dass die Chancen derer, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind oder einer prekären Beschäftigung nachgehen, diesem Bereich zu entfliehen, hierzulande massiv abgenommen haben. „Gute Arbeit wird mehr und mehr durch prekäre verdrängt.“ In Deutschland arbeiten inzwischen 6,5 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor. Über zwei Millionen Menschen bekommen für ihre Arbeit weniger als 6 Euro in der Stunde, die Hälfte davon sogar weniger als 5 Euro. Und 743 000 Menschen müssten trotz sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung von Hartz IV leben, verdeutlicht der DGB-Mann die Lage in Deutschland.
Druck auf die Menschen durch die Hartz-Reformen
Der mittelfränkische DGB-Vorsitzende Stephan Doll verweist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Ende Februar dieses Jahres vorgestellte Analyse der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, wonach gut ein Drittel der Beschäftigten in Nürnberg, Fürth, Erlangen und Schwabach in unsicheren Arbeitsverhältnissen sind. So gebe es in Nürnberg 117 700 prekäre Beschäftigungsverhältnisse, 36,5 Prozent von insgesamt 322 400. In Fürth liegt die Zahl bei rund 16 500 (33,8 Prozent), in Erlangen bei 31 100 (33,3 Prozent) und in Schwabach bei 6250 (38,5 Prozent).
Als Ursache für die starke Zunahme der prekären Beschäftigung nennt DGB-Arbeitsmarktexperte Adamy den Druck auf die Menschen durch die Hartz-Reformen, die Flucht der Arbeitgeber aus der Tarifbindung, betriebliches Outsourcing zur Senkung der Personalkosten und unzureichende Kinderbetreuungsangebote, die die Zeitsouveränität von Frauen einschränken. Deshalb belaufe sich ihr Anteil an denjenigen, die mit weniger als 1000 Euro im Monat auskommen müssten, auf 9,8 Prozent. In Bayern sei die Lage mit 4,3 Prozent (Männer und Frauen) noch etwas besser als im Bund (5,3 Prozent).
Adamy verweist auch darauf, dass die Spreizung des Arbeitsmarktes in prekäre Beschäftigung auf der einen und hoch bezahlte Beschäftigung auf der anderen Seite politisch gewollt ist. Denn allein 2009 sei die sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung mit 2,5 Milliarden Euro in Form von Hartz-IV-Leistungen subventioniert worden. Rechnet man die sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten, die Hartz IV beziehen, hinzu, kommen noch einmal 1,51 Milliarden Euro obendrauf. Das macht insgesamt 4 Milliarden Euro. Doch damit nicht genug. Die Steuerausfälle aus den Minijobs belaufen sich auf 1,5 Milliarden Euro und die Beitragsausfälle zur Sozialversicherung auf 2,3 Milliarden Euro. „Das sind übrigens offizielle Zahlen der Bundesregierung“, erläutert Adamy. Er verweist darauf, dass die deutschen Steuerzahler 2009 insgesamt rund 8 Milliarden Euro gezahlt haben, „um eine problematische Entwicklung zu fördern“.
Diese sei gewollt, weil man so als exportstarke Nation auf dem Weltmarkt weiterhin punkten könne, wenn die Lohnkosten sinken. Denn die Entwicklung im Niedriglohnsektor frisst sich laut Adamy auch langsam in die reguläre Beschäftigung hinein. Allein bei der Leiharbeit, die von der Wirtschaft immer als Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt gepriesen werde, liege das Lohnniveau im Durchschnitt 25 Prozent unter dem der regulären Arbeit. Der so genannte Klebeeffekt, also die Übernahme von Leiharbeitern als Festangestellte, liegt laut Adamy aber nur zwischen 8 und 15 Prozent. So sei die Leiharbeit ein arbeitsmarktpolitisch fragwürdiges Instrument.
„Ein großes Problem ist auch, dass die Arbeitsagenturen die Zeitarbeitsfirmen als Premiumkunden betrachten“, so der DGB-Experte. Seiner Ansicht nach sollten die Agenturen viel stärker mit den regulären Betrieben zusammenarbeiten. Denn die Agenturen setzten bei der Vermittlung zu sehr auf „kurz und billig“. Und Stephan Doll vom DGB Mittelfranken verweist darauf, dass 45 Prozent der Vermittlungen im Arbeitsamtsbezirk Nürnberg in Leiharbeit gehen. In Ansbach sitze sogar eine Leiharbeitsfirma in den Räumen der dortigen Arbeitsagentur. „Das ist ein Skandal“, so Doll. Ebenfalls als untragbar empfindet er die jüngste Aktion der Nürnberger Arbeitsagentur. Sie habe unter Androhung von Sanktionen Arbeitslose in ihren Räumen dazu gezwungen, sich im Rahmen einer Stellenbörse bei Leiharbeitsfirmen vorzustellen. Als Beleg mussten die Arbeitssuchenden fünf Stempel der Vermittlungsunternehmen vorweisen, die in der Arbeitsagentur für sich Werbung machten. In der Arbeitsagentur Schweinfurt gibt es laut Doll derartige Leiharbeitsmessen nicht mehr, nachdem der DGB protestiert hatte.
„Wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro“, sagt Adamy. Nur so könne der Verlust des „sozialen Kitts“ in der Gesellschaft gestoppt und ein Rechtsruck in der Bevölkerung verhindert werden. „Die geringe Wahlbeteiligung müsste eigentlich jeden Politiker alarmieren“, meint der DGB-Mann.
(Ralph Schweinfurth)

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