Wirtschaft

Barbara Stamm fordert ein Bundesleistungsgesetz. (Foto: Schweinifurth)

28.01.2011

Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt

Barbara Stamm, Vorsitzende des Lebenshilfe-Landesverbandes Bayern, will Menschen mit Behinderung den Weg zu regulären Jobs erleichtern

Behindertenwerkstätten erfüllen wichtige Zulieferfunk-
tionen für die unterschiedlichsten Wirtschaftszweige. Allein im Freistaat gibt es 180 Hauptwerkstätten mit diversen Zweigbetrieben. 137 davon betreibt die Lebenshilfe Bayern.
„Die rund 710 anerkannten Werkstätten sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland“, sagt Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU), die zugleich Vorsitzende des Lebenshilfe-Landesverbandes Bayern ist, zur Staatszeitung. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft für Werkstätten erwirtschaften diese über 2 Milliarden Euro im Jahr. Die Werkstätten fungieren als Zulieferer für den Automobilsektor, führen Metallarbeiten und Elektromontage aus, stellen Büroartikel, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Möbel, Spiele und Kunsthandwerk her, sind im Catering, Gartenbau, Recycling und in der Landschaftspflege aktiv, und erledigen Verpackungsarbeiten.
Werkstätten erwirtschaften 400 Millionen Euro Umsatz
„Allein die Lebenshilfe-Werkstätten in Bayern erwirtschaften geschätzte 400 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Dabei bieten die 40 Lebenshilfe-Träger, die 137 Werkstätten betreiben, rund 16 000 Plätze für Menschen mit Behinderung“, erläutert Stamm. Insgesamt gibt es laut bayerischem Sozialministerium im Freistaat etwa 180 Hauptwerkstätten für Menschen mit Behinderung, die etwa 26 500 Plätze offerieren.
„In den Werkstätten findet entgegen der Vorstellung vieler keine Bastelarbeit statt, sondern echte Dienstleistung für die freie Wirtschaft“, erklärt die bayerische Lebenshilfe-Vorsitzende. Die Geschäftsführer der Werkstätten müssten sich mit Angeboten um Aufträge von den Unternehmen bemühen. „Wir konkurrieren genauso um Aufträge wie jedes andere Unternehmen, das zum Beispiel als Zulieferer für die Automobilindustrie tätig werden möchte“, erklärt Stamm. Und so habe man in den Werkstätten während der Wirtschaftskrise auch Auftragsrückgänge zwischen 30 und 40 Prozent verkraften müssen.
„Aber die meisten Unternehmen, für die wir Aufträge erledigen, stehen zu uns und versuchen uns auch immer wieder mit Aufträgen zu betrauen“, freut sich Stamm. Allerdings seien das keine Almosen, sondern Preis, Qualität und Lieferzuverlässigkeit müssten stimmen. Sonst hätten die Werkstätten keine Chance.
Für viele Menschen mit Behinderung sind die Werkstätten der Lebenshilfe auch Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt. „Viele Arbeitgeber scheuen sich, für Menschen mit Behinderung selbst das Anstellungsverhältnis zu übernehmen“, erklärt die Landesvorsitzende. Deshalb übernimmt das die Lebenshilfe zum Beispiel bei so genannten ausgelagerten Arbeitsplätzen. Wenn die Unternehmer dann im Laufe der Zeit merken, dass Menschen mit Behinderung ebenso wertvolle Mitarbeiter sein können wie jeder andere Mitarbeiter, werden viele von ihnen auch in reguläre Arbeitsverhältnisse übernommen.
Es gibt also sehr gut funktionierende Kooperationen und Unterstützungen mit und durch die Unternehmen in der Region. „Viele unserer Werkstättenmitarbeiter arbeiten zum Beispiel für Ikea“, erklärt Stamm. Und auch in einem Café der Universität von Würzburg sind Menschen mit Behinderung beschäftigt, ebenso in Fahrradreparaturbetrieben, bei einer Kartoffelschälfirma im Landkreis Kitzingen und im Wildpark Sommerhausen, um nur einige Beispiele aus Unterfranken zu nennen. „Und wenn ich mich nicht mindestens einmal im Jahr in Sommerhausen sehen lasse, bekomme ich von dort schon Fragen, wo ich denn bleibe“, freut sich Stamm über die Akzeptanz ihrer Person als Landesvorsitzende der Lebenshilfe.
Damit Menschen mit Behinderung von den Kommunen nicht als finanzielle Belastung gesehen werden, fordert Stamm, die viele Jahre bayerische Sozialministerin war, ein Bundesleistungsgesetz. „Das ist dringend notwendig, um nicht einseitig der kommunalen Familie die Kosten der deutschen Sozialgesetzgebung aufzubürden.“
Gemeinsam in Berlin Druck machen
Es müsse zu einer sinnvollen Lastenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen, denn die Menschen mit Behinderung werden immer mehr und viele von ihnen kommen ins Rentenalter, so die Lebenshilfe-Landesvorsitzende. Darum fordert sie auch die Solidarität der bayerischen Bezirke mit der Lebenshilfe ein, um gemeinsam in Berlin genug Druck zu machen. Nicht immer sei es selbstverständlich, dass alle Bezirke geschlossen hinter der Forderung nach einem Bundesleistungsgesetz stehen, so Stamm.
Dies zeige sich am Beispiel der Frühförderung ziemlich deutlich. Während in Oberbayern die Kosten hierfür allein schon wegen des höheren Preisniveaus größer sind, würde immer wieder auf das vermeintlich sparsame Oberfranken verwiesen. „Dort herrscht nicht nur ein niedrigeres Preisniveau, sondern man hat auch einen knapperen Personalschlüssel für die Frühförderung, was wiederum zu weniger Ausgaben führt“, erläutert Stamm. Im Detail würden seit August 2010 die Behandlungseinheiten für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder auffällig oft gekürzt. Wurden bisher bis zu 72 Behandlungseinheiten bewilligt, so sind es jetzt maximal 60 Einheiten. Der Bezirk Oberfranken verfahre so, obwohl Ärzte und Frühförderstellen mehr Behandlungseinheiten für notwendig erachten. Laut Stamm habe man für die Kürzungen abenteuerliche Begründungen wie zum Beispiel, dass Synergieeffekte bei der gleichzeitigen Behandlung von Zwillingen entstünden. Eltern, die Widerspruch einlegen, würden vom Bezirk angerufen, diesen zurückzuziehen. Wegen Geldmangels sei der Bezirk Oberfranken auch nicht bereit, die vereinbarte Erhöhung seiner Kostenbeteiligung für integrative Kitaplätze zu bezahlen.
Aber nicht nur in Oberfranken hat es die Lebenshilfe schwer mit dem Bezirk. So wurde in Mittelfranken die notwendige Sprachförderung für schwer sprachlich behinderte Vorschulkinder einfach nach Aktenlage abgelehnt. Die Lebenshilfe in Fürth nahm die Kinder wegen der Dringlichkeit der Förderung trotzdem auf. Ein Verfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg ergab nun, dass der Bezirk rückwirkend zahlen muss.
Auch in anderen Bereichen werden Leistungen oft willkürlich gekürzt. Obwohl Bayerns Lebenshilfe-Landesvorsitzende außergerichtliche Lösungen bevorzugt, müsste oft der Klageweg beschritten werden, damit Menschen mit Behinderung ihre gesetzlich zugesicherten Ansprüche auch durchsetzen können. So habe zum Beispiel das Bundessozialgericht entschieden, dass Werkstättenbesucher das Mittagessen in den Werkstätten als Teil der Eingliederungshilfe nicht selbst bezahlen müssen, falls ihr Lohn nicht über der Einkommensgrenze liegt. „Das sind Millionenbeträge für die Bezirke, die jetzt drei Jahre rückwirkend gezahlt werden müssen“, sagt Stamm. Gleichzeitig bedauert sie, dass dies erst auf höchstrichterlicher Ebene geklärt werden konnte. Die Bezirke hätten dies vermeiden können, wenn sie die Sozialgesetzgebung richtig angewandt hätten. Ziel der Inklusion verwirklichen
Dies sind nur einige Beispiele, wie die Lebenshilfe Menschen mit Behinderung und deren Angehörige unterstützt, zu ihrem Recht zu kommen. Insgesamt ist Stamm froh, dass sich mehr und mehr das Bewusstsein in der Bevölkerung durchgesetzt hat, dass Menschen mit Behinderung keine Menschen zweiter Klasse sind. Dennoch gelte es hier, am Ball zu bleiben, denn es gehe jetzt darum, das von den Vereinten Nationen proklamierte Ziel der Inklusion zu verwirklichen. Menschen mit Behinderung sollen in allen Lebensbereichen einfach dazugehören. „Da ist man in Italien schon weiter als bei uns. Obwohl die Italiener den gesamten Bereich der Schwerstbehinderten noch nicht inkludiert haben“, merkt Stamm an. Auch aus den skandinavischen Ländern höre sie, dass man dort beim Thema Inklusion bereits weiter fortgeschritten sei als hierzulande. Es gibt also noch genug zu tun für die Lebenshilfe.
(Ralph Schweinfurth)

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