Wirtschaft

Die Gründungsurkunde des Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine, dem Vorgänger des GVB, aus dem Jahr 1893. (Foto: GVB)

09.08.2013

Unverzichtbar für Wirtschaft und Gesellschaft

120 jahre Genossenschaftsverband Bayern - ein kurzer historischer Abriss

m ersten Halbjahr 2013 nahmen 36 neue Genossenschaften im Freistaat ihre Arbeit auf. Mit 27 Genossenschaften liegt der Schwerpunkt dabei wie in den Vorjahren auf dem Bereich Energie. Damit setzt sich die dynamische genossenschaftliche Gründungsentwicklung auch in diesem Jahr fort: Nach 66 neuen Genossenschaften in 2012 und 51 Kooperationen, die 2011 gestartet sind, erwartet der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) für das laufende Jahr ein ähnlich hohes Niveau.
Stephan Götzl, Präsident des GVB, kommt daher zu folgender Analyse: „Bayern ist ein Land von Genossenschaftsgründern.“ Die Idee, Herausforderungen gemeinsam und selbstverantwortlich zu meistern, überzeuge immer mehr Menschen. Allein in Bayern sind rund 2,8 Millionen Einwohner, also fast jeder vierte Bürger, Mitglied in einem der 1.271 genossenschaftlichen Unternehmen. Gegenüber 2012 bedeutet das ein Plus von rund 63 000 Mitgliedern.
Das vor nunmehr 160 Jahren von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch in Deutschland begründete Genossenschaftsprinzip ist laut Götzl inzwischen auf der ganzen Welt ein „unverzichtbarer Bestandteil von Wirtschaft und Gesellschaft“. Rund 800 Millionen Menschen in mehr als 100 Ländern sind in einer Kooperative organisiert. Heuer feiert der Genossenschaftsverband Bayern seinen 120. Gründungstag.
Angesichts wirtschaftlicher Krisen und der Not im ländlichen Raum wurden die Genossenschaften in Deutschland als „Graswurzelbewegung“ ab Mitte des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen, so Götzl. Was mit Raiffeisens Wohltätigkeitsvereinen zur Bekämpfung der Armut begann, wurde innerhalb kurzer Zeit mit der Gründung von Vorschussvereinen für mittellose Landwirte nach der Idee von Schulze-Delitzsch fortgesetzt. Diese Vorläufer der Kreditgenossenschaften machten die Bedürfnisse des Einzelnen zum Gemeinschaftsziel, vertrauten auf die Kraft der Selbsthilfe und setzten auf demokratische Willensbildung mit gleichberechtigter Mitsprache jedes Mitglieds, betont der GVB-Präsident.
Dieser Ansatz ist für ihn deshalb so bemerkenswert, weil er entgegen einem damals verbreiteten Individualismus und dem herrschenden obrigkeitsstaatlichen Denken aufkam. Das Geschäftsmodell der genossenschaftlichen Darlehenskassen war so vielversprechend, dass es sich schnell durchsetzte. Bereits zum Jahrhundertwechsel waren rund 160  000 Landwirte Mitglied in einer bayerischen Darlehenskasse. Die Kassen stellten die notwendigen Betriebsmittel zur Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion bereit und legten damit laut Götzl einen Grundstein für die Entwicklung des bürgerlichen Mittelstands in Bayern.
Insbesondere, wenn es um die Bewältigung tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen ging oder geht, stößt man auf besonderes genossenschaftliches Engagement.
Gravierend waren die Probleme etwa nach Kriegsende 1945. Die Versorgung der Bevölkerung bereitete große Schwierigkeiten; in Bayern suchten rund zwei Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene Zuflucht. Es fehlten Lebensmittel und Bedarfsgüter aller Art. Die Genossenschaften übernahmen die Aufgabe, die Landwirtschaft mit Betriebsmitteln zu beliefern, ihre Produkte zu vermarkten und für ihre Verteilung zu sorgen. Mit den Raiffeisen-Warenhäusern wurde dafür die erforderliche Infrastruktur bereitgestellt.
Aber die Genossenschaften unterstützten nicht nur den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Stunde Null, betont Götzl. „Sie wurden auch zu einer treibenden Kraft des demokratischen Neuanfangs in Deutschland.“
Als Persönlichkeit stand dafür insbesondere Michael Horlacher, der Staatskommissar für das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen und Direktor des Bayerischen Raiffeisenverbands. Er leitete die Neuorganisation des Genossenschaftswesens ein.
In der ersten Verbandsmitteilung im Mai 1947 fasste er nach Götzls Ansicht die Rolle der Genossenschaft in der jungen Bundesrepublik sehr anschaulich zusammen: „Die echte Genossenschaft verkörpert in ihrer Zielsetzung und in ihrer Verfassung die Demokratie, sie erzieht ihre Mitglieder zu demokratischem Handeln, sie ist eine gute Schule zur praktischen Demokratie.“ Aus dem demokratischen Grundverständnis der Genossenschaften leitet sich auch ihre aktive politische Mitwirkung ab. So war das Urmotiv für die Gründung des Genossenschaftsverbands vor 120 Jahren eine Kräftebündelung zur wahrnehmbaren politischen Interessenvertretung, erklärt der GVB-Präsident.
Schon 1893 war den treibenden Persönlichkeiten klar, dass eine Vernetzung der Genossenschaften untereinander und ein gemeinsamer Auftritt mit einer Stimme Voraussetzung dafür ist, in der Politik Gehör zu finden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass zu der Gründungsversammlung des bayerischen Genossenschaftsverbands im November 1893 namhafte Repräsentanten der bayerischen Politik geladen waren.
Rund 300 Vertreter der bayerischen (Raiffeisen-) Genossenschaften beschlossen in den Münchener Zentralsälen die Gründung des „Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine“ – dem Vorläufer des bayerischen Raiffeisenverbands. Anwesend waren zahlreiche Landtagsabgeordnete, Vertreter der Regierung von Oberbayern sowie der Bayerische Innenminister Maximilian Alexander Freiherr von Feilitzsch.
Die Vollzugsmeldung wurde sofort per Telegramm Prinzregent Luitpold zugetragen, der umgehend sein Wohlwollen zum Ausdruck brachte und seine Unterstützung anbot. Gleichzeitig betonten die Gründer die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des neuen Verbands. Sie wollten nicht dem Staat, sondern den Mitgliedern und dem Gemeinwohl verpflichtet sein.
Der Anspruch auf politische Mitsprache wurde im Gründungsstatut verankert. Danach ist es wesentliche Aufgabe des Verbands, „(d)ie Interessen des Genossenschaftswesens wahrzunehmen und zu pflegen“ (Statut vom 28.11.1893: § 3 Aufgaben des Verbands). Zum ersten Direktor des neuen Verbands wurde Freiherr Maximilian von Soden-Fraunhofen gewählt.
Bei der Gründungsversammlung war auch der Verbandsdirektor der pfälzischen Kreditgenossenschaften Schulze-Delitzscher Richtung anwesend, ein gewisser „Direktor Conrad“. Seine Wortmeldung klingt heute fast hellseherisch: Er meinte, dass die Zeit, in der die beiden Organisationen sich feindlich gegenüberstanden, vorüber sei, „da es doch mehr Berührungspunkte als Trennungspunkte gibt“. Allerdings erreichte man diese Einigkeit erst 95 Jahre später.
Die Krisenjahre 1923 und 1929 waren Anstoß wichtiger Entwicklungen des Genossenschaftswesens. Bereits 1922 hatten die gewerblichen Genossenschaften den Bayerischen Genossenschaftsverband e.V. mit Sitz in Nürnberg als ihre zentrale Vertretung. Der Schwarze Freitag sollte dann auch die Raiffeisenorganisation zusammenführen. Unter dem Motto „Vereint wird auch der Schwache mächtig“, verkündete der Bayerische Landesverband in seinem Genossenschaftsblatt den Zusammenschluss der Verbände in München, Ansbach und Nürnberg. „Die Entscheidung kann als Meilenstein in der Organisation des bayerischen Genossenschaftswesens gelten“, schreibt Sylvia Lolli Gallowsky in ihrem Beitrag 1893 bis 2013: 120 Jahre im Dienst der Mitglieder (Profil – Das bayerische Genossenschaftsblatt 7/2013). Sie führte dazu, dass die Landesorganisation mit 3800 Mitgliedern der dominierende Genossenschaftsverband in Bayern und der bedeutendste im Reich wurde.
Die unter Führung von Georg Heim stehende Regensburger Organisation widersetzte sich jedoch weiterhin dem Zusammenschluss. 1934 erzwangen die Nationalsozialisten allerdings eine Vereinheitlichung der bayerischen Verbände innerhalb des so genannten „Reichsnährstands“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die bayerischen Genossenschaften den Wiederaufbau in die Hand. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung entwickelten sich die Kreditgenossenschaften zu Universalbanken mit einem kompletten Finanzdienstleistungsangebot, so Gallowsky. Die Modernisierung der Landwirtschaft und des Bankgeschäfts trug in den 1960er Jahren dazu bei, dass das Verständnis für eine Zusammenarbeit zwischen gewerblichen und landwirtschaftlich geprägten Genossenschaften entstand. Ein wichtiger Schritt dafür war für Gallowsky die Gründung der Rechenzentrale Bayerischer Genossenschaften als Gemeinschaftseinrichtung der Volksbanken und Raiffeisenbanken.
Zu einem Zusammenschluss der Verbände kam es – trotz einzelner Vorstöße – noch nicht. Erst als Folge interner Krisen fanden die Organisationen zusammen. Konkreter Anlass dafür, die Fusionsgespräche wieder aufzunehmen, war der Zusammenbruch der Bayerischen Raiffeisen-Zentralbank (BRZ) 1985. Ein Jahr später zeichnete sich eine Übernahme der Zentralbank der bayerischen Volksbanken bdurch die DG Bank ab. Nach harten Verhandlungen war es dann am 15. November 1988 soweit. Mit dem „Genossenschaftsverband Bayern (Raiffeisen/Schulze-Delitzsch)“ entstand eine einheitliche Organisation für Kreditgenossenschaften sowie ländliche und gewerbliche Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften. (Friedrich H. Hettler) (Friedrich Wilhelm Raiffeisen; Hermann Schulze-Delitzsch; genossenschaftliche Honoratioren in den 1890er Jahren; zwei historische Werbeplakate aus den 1960er Jahren. Der GVB hat heute seinen Sitz in der Münchner Türkenstraße 22-24 - Fotos: GVB)

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