Wirtschaft

Bayerns AOK-Chef Helmut Platzer kritisiert das derzeitige Gesundheitssystem, das einer allgemeinen Gleichmacherei Vorschub leiste. (Foto: AOK Bayern)

20.05.2011

Versorgungsdichte und Versorgungsqualität leiden

Bayerns AOK-Chef fordert mehr Regionalität in der gesetzlichen Krankenversicherung

„Die gesetzliche Krankenversicherung muss mehr Regionalität abbilden“, fordert Bayerns AOK-Chef Helmut Platzer im Gespräch mit der Staatszeitung. Nur so könnten die Patienteninteressen gewahrt bleiben. Denn in den vergangenen Jahren sei ein Trend zu immer mehr Zentralismus, Vereinheitlichung und Verstaatlichung festzustellen gewesen. „Das geht zulasten der Versorgungsdichte und Versorgungsqualität der Patienten in Bayern und schwächt die Leistungsfähigkeit regional aufgestellter Versicherungsträger.“
In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei es ein wenig wie beim Länderfinanzausgleich, erläutert Platzer. Bayern zahlt derzeit sehr viel in die von Berlin aus gesteuerte Umverteilungsmaschinerie der GKV. Die Profiteure der hohen Zahlungen aus dem Freistaat säßen aber in den anderen Bundesländern. Laut Platzer entgehen den Versicherten in Bayern durch diese Finanzierungsmechanik pro Jahr dreistellige Millionenbeträge. Er kritisiert, dass das derzeitige System einer allgemeinen Gleichmacherei Vorschub leistet. So würde beispielsweise nicht berücksichtigt, dass ein Flächenstaat wie Bayern eine ganz andere Versorgungsdichteproblematik aufweise, als ein Stadtstaat wie Berlin, Bremen oder Hamburg.
Auch die richtige Abstimmung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung könne mit dem jetzigen System nicht optimal gelingen. Denn in jedem Bundesland ist Platzer zufolge die Gewichtung historisch bedingt anders: Im einen überwiegt die ambulante, im anderen die stationäre Schiene. Diese Strukturen würden bei der derzeitigen Finanzierungssystematik aber nicht berücksichtigt. Allein schon deshalb kommt es zu finanziellen Problemen in der GKV.
„Da die Gesundheitsreform ja nie abgeschlossen sein wird, sondern ein laufender Prozess ist und sein muss, weil sich ja gesellschaftliche Strukturen und die Bedürfnisse der Menschen ständig ändern, müssen im nächsten Anpassungsschritt mehr Regionalstrukturen abgebildet werden“, sagt Platzer. So sei es dringend erforderlich, auch die unterschiedliche regionale Morbidität, also die unterschiedliche Krankheitsrate der Menschen, mit in die Mittelverteilung einfließen zu lassen. Für bundesweit aufgestellte Kassen sei dies kein Problem, weil sich die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Kosten intern ausglichen. „Für eine regionale Kasse wie die AOK Bayern ist das aber ein Problem, weil wir nur Mittel zur Versorgung der Versicherten im Freistaat zugewiesen bekommen“, betont Platzer.
Mit einem Federstrich zunichte gemacht
Auch bei den Verträgen mit den Ärzten schrumpfe der Gestaltungsspielraum immer mehr. Seit der Honorarreform 2009 seien die Spielräume für Strukturverträge, Modellvorhaben oder hausarztzentrierte Versorgung in den einstelligen Prozentbereich zusammengeschrumpft. Vorher wurden in Bayern etwa 40 Prozent der Ausgaben für die ambulante ärztliche Versorgung über individuelle Regelungen wie Strukturverträge, integrierte Versorgung oder Hausarztverträge verteilt und nur 60 Prozent im Rahmen der kollektiven Gesamtvergütung. „Ambulantes Operieren oder das belegärztliche Verfahren waren in Bayern sehr stark ausgeprägt.“ Doch das sei mit einem Federstrich zunichte gemacht worden. Auch in diesem Bereich fordert Bayerns AOK-Chef eine Überarbeitung der jetzigen Lage im Sinne der Schaffung größerer Flexibilität.
Ausdrücklich zu begrüßen sei die zurzeit diskutierte Stärkung der Patientenrechte. „Es ist für den Einzelnen von enormer Bedeutung, dass er weiß und beurteilen kann, was mit ihm im Gesundheitssystem passiert“, so Platzer. So arbeitet die AOK bereits jetzt daran, die Transparenz für jeden Versicherten zu erhöhen. Im Internet kann man sich zum Beispiel über die Kompetenzschwerpunkte einzelner Ärzte, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen informieren oder Qualitätskriterien prüfen. Behandlungsfehlermanagement oder die Vermeidung von Doppelstrukturen seien ebenfalls Punkte, die laut Platzer in diesen Bereich von mehr Transparenz fallen: „Letzten Endes muss der Patient selbst entscheiden können, welche Behandlung er will, dafür braucht er Unterstützung durch Transparenz.“
Trotz Skepsis bei anderen Kassen kann Platzer für die AOK Bayern nachweisen, dass Disease Management-Programme (DMP) durchaus sinnvoll sind: „Sie verbessern die Behandlungsqualität für den Patienten und vermeiden Eskalationen, was zu mehr Wirtschaftlichkeit für die Kasse führt.“ So würden die Ärzte, die Diabetiker behandeln, im Rahmen der DMP explizit darauf achten, dass bei diesen Menschen zum Beispiel die fachgerechte Fußpflege unerlässlich sei, um Amputationen zu vermeiden. Bei Patienten mit massivem Diabetes sollte auch immer ein Augenarzt beigezogen werden, der regelmäßig den Augeninnendruck misst. Denn so wird man den Verlust des Augenlichts vermeiden können. Das alles führt Platzer zufolge nicht nur zu mehr Lebensqualität für den Patienten, sondern auch zu Einsparungen für die Kassen: „Und das Wichtigste – die bisherigen Erfahrungen zeigen: Es funktioniert!“
Damit dies alles gut gelingt, sei auch eine hausarztzentrierte Versorgung nötig und richtig, so Platzer. Man müsse ständig aus der Vergangenheit lernen und dieses Jahr eine dritte Generation von Hausarztverträgen kreieren, die dem gerecht wird.
Auch Vorsorge und Versorgungsmanagement seien wichtige Punkte, um Qualität und Ökonomie im Gesundheitswesen gleichermaßen realisieren zu können. Derzeit steigen zum Beispiel pro Jahr die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen an, was sicher unter anderem mit der permanent steigenden Belastung am Arbeitsplatz zu erklären ist. Hier gegenzusteuern, liegt laut Platzer nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber: „Vor allem bei Mittelständlern haben wir hier eine extrem hohe Akzeptanz für das Thema betriebliche Gesundheitsförderung.“
Pflegeversicherung muss nachhaltig finanziert sein
Ein weiteres großes Thema, das Platzer beschäftigt, ist die Pflegeversicherung. Hier müsse der Pflegebegriff unter Berücksichtigung neuer wachsender Herausforderungen wie der Demenzproblematik weiterentwickelt werden. Aber auch die nachhaltige Finanzierung sei zu klären. Aus seiner Sicht könne nur ein Umlageverfahren zielführend sein. „Denn mit einem Kapitaldeckungsverfahren hätten die Anwartschaften der Menschen schon allein durch die letzte Finanzmarktkrise nur noch ein Drittel ihres ursprünglichen Wertes“, mahnt Platzer. Außerdem seien die Kapitalmengen, die bei einem Kapitaldeckungsverfahren auflaufen würden, in keiner Volkswirtschaft der Welt unterzubringen. „Hierzu müssten die Finanzmärkte aufnahmefähig sein“, so Bayerns AOK-Chef. Das dritte Problem eines Kapitaldeckungsverfahrens wäre dessen Einführung. Denn in der ersten Generation nach einem Systemwechsel entstünden zwangsläufig immer doppelt Belastete und doppelt Begünstigte. Das sei schon bei der Einführung der Pflegeversicherung so gewesen. „Da gab es Menschen, die nie in diese neue Versicherung eingezahlt haben, aber dennoch gleich von ihr profitieren konnten, da sie eben just zu diesem Zeitpunkt pflegebedürftig wurden“, erläutert Platzer.
(Ralph Schweinfurth)

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