Wirtschaft

Gerade beim Bau von Autobahnen geht viel Fläche verloren. (Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabber)

07.01.2022

Vom 5-Hektar-Dogma zur ökologischen Qualitätsdebatte

Energiewende, Wohnraum, Mobilitätswende und soziale Teilhabe: Die Transformationsherausforderungen benötigen effizient und ökologisch qualitätsvoll genutzten Raum

Gemeinhin gilt: Je länger kontroverse Debatten anhalten, desto mehr bewegen sie sich auf die Realität zu und desto eher werden sachgerechte Argumente ausgetauscht. Eine solche Entwicklung scheint sich gerade – wenngleich gut versteckt und auf sehr leisen Füßen – in die Diskussion um die Minderung der Flächeninanspruchnahme einzuschleichen: So lautet der Schlüsselbegriff der Protagonisten der Auseinandersetzung, spätestens seit Vorstellung des mit ambitionierten wohnungs-, energie-, industrie- und mobilitätspolitischen Zielen versehenen Koalitionsvertrags der Ampelregierung, die laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) „das Antlitz des Landes verändern werden“: Zielkonflikt.

Diverse Zielkonflikte

Mit welchem Begriff wäre auch besser umschrieben, dass das Wachstumsland Bayern einerseits das Ziel ausgerufen hat, die Flächeninanspruchnahme für Wohnen, Siedlung und Verkehr auf täglich fünf Hektar zu begrenzen, gleichzeitig aber alleine in Bayern jährlich 70.000 Wohnungen (nach gegenwärtigen Baustandards auf rund sechs Hektar Fläche pro Tag) gebaut werden sollen und die Energiewende bis zum Jahr 2040 durch täglich massiven Zubau von Photovoltaik (der VBEW Bayern spricht von 26 Fußballfeldern pro Tag!) und Windkraft vollzogen werden soll? Beide Ziele – der geplante Wohnraum sowie der not-wendige Zubau an erneuerbaren Energien – benötigen demnach jedes für sich genommen bereits alleine mehr als die anvisierten fünf Hektar täglich, greift man auf die Daten renommierter Expertinnen und Experten zurück. Radwege und Schienen für die notwendige Mobilitätswende, Arbeits- und Produktionsstätten für den „größten Umbau von Wirtschaft und Produktion seit 100 Jahren“ – so Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) –, Sozial- sowie Freizeiteinrichtungen für eine Post-Corona-Gesellschaft in einem prosperierenden Industrie- und Hochtechnologieland Bayern sind da noch gar nicht mitgerechnet.

Aus der Luft gegriffen

Was also tun? 70.000 Wohnungen im Jahr in den Ortskernen oder durch Aufstockung entwickeln, wie so manch einer scheinbar meint? Vor der massiven Flächendimension der Energiewende doppelmoralisch die Augen verschließen? Den Intels, Amazons und Teslas der Welt den Weg nach Bayern verschließen? Mehr und mehr scheint die Zahl von fünf Hektar schlicht aus der Luft gegriffen, ein goldenes Kalb, das von keiner gesellschaftlichen Entwicklungs- und Machbarkeitsrealität mehr hinterfragt werden darf. Ganz zu schweigen von planerischen Flächenkontingenten in Zeiten, in denen Planungsvereinfachungen und keine Bürokratiehürden angekündigt werden.

Nichts desto weniger eint uns die Sorge und ein Ziel: Die Flächeninanspruchnahme für Siedlung, Infrastruktur und Verkehr ist unzweifelhaft hoch und muss mit gemeinsamer Anstrengung gesenkt werden. Im Idealfall auch auf fünf Hektar pro Tag oder weniger. Natur, Landschaft und Heimat sind zu wertvoll. Gleichzeitig benötigen die wohnungs-, energie-, sozial-, technologie- und ver-kehrspolitischen Vorhaben von Bund und Land Platz und Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade im wachstumsstarken Bayern.

Von einer neuen Realitätskonfrontation in der Debatte zeugt auch eine statistische Trickserei der Initiatoren des Volksbegehrens „Betonflut eindämmen“: Da bereits der im gegenwärtigen Transformationsprozess notwendige Zubau von Anlagen der erneuerbaren Energien die anvisierte Flächeninanspruchnahme-grenze übersteigt, könne man – so der überarbeitete Gesetzentwurf – die damit täglich verbrauchten zahlreichen „Fußballfelder“ doch aus der Betrachtung einfach herausfallen lassen.

Sehr gern! Als gemeinwohlorientierte Gemeinden schlagen wir seit Langem vor, dass die dem Gemeinwohl dienenden Maßnahmen wie die Wohnraumschaffung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Schaffung von Vorhaben für die soziale Teilhabe sowie von Anlagen für die Energiewende keinen „Flächenfraß“ darstellen, sondern vielmehr gemeinwohlorientierten Nutzungen der Fläche entsprechen.

Flächen schonend nutzen

Der Gedanke der Initiatoren trifft jedoch einen zentralen Punkt: Gemeinsame Aufgabe muss es sein, die drängenden Gegenwarts- und Zukunftsherausforderungen mit dem ökologischen Ziel einer möglichst schonenden Flächennutzung in einen effizienten und zukunftsfähigen Ausgleich zu bringen. Dass die Politik entsprechende Zielkonflikte regelmäßig zu lösen hat, zeigt anschaulich folgender Satz im Koalitionsvertrag der Ampel: „Für unsere gemeinsame Mission, die Planung von Infrastrukturprojekten, insbesondere den Ausbau der erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen, wollen wir das Verhältnis von Klimaschutz und Artenschutz klären“ ist dort zu lesen. Oder mit den Worten der neuen Umweltministerin Steffi Lemke zum Thema Wohnungsbau und Ökologie gesprochen: „Auch hier gilt doch: die Welt ist nicht schwarz-weiß.“

Entsprechend wurden auch in einem kürzlich von der Fraktion Die Grünen im Bayerischen Landtag vorgelegten Gutachten zur Befriedigung des Wohnraumbedarfs im Lichte des Fünf-Hektar-Ziels sowie im Rahmen kürzlich abgehaltener Fachtagungen (Akademie Ländlicher Raum am 4. November 2021 und VBW am 16. Dezember 2021) neben Bürokratiefesseln und nicht hinnehmbaren Eingriffen in die Planungshoheit Vorschläge formuliert, über die es zu sprechen gilt. Vorschläge, die auch vonseiten der Kommunalen Spitzenverbände vorgetragen worden sind und die den Takt in der Debatte in den kommenden Jahren vorgeben werden.

So ist Flächenverbrauch nicht gleich Flächenverbrauch. Es ist etwas anderes, ob ein Logistiker ohne Flächeneffizienzprüfung, ohne Mehrgeschossigkeit, ohne ökologische Überlegungen, ohne eine PV-Aufdachanlage oder Dachbegrünung baut, oder ob er entsprechende Maßnahmen der Klimaanpassung und Ökologie am Bau in sein Vorhaben einbezieht. Gleichzeitig wird man auch über Pflegeeinrichtungen, Radwege und Schulen mit Blick auf ihre Sozial-, Nachhaltigkeits- und Krisenbewältigungsfunktion anders nachdenken, als über Autobahnen, wenngleich hier Gemeinwohlbelange in ihrem Wert für die Gesellschaft nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Ganzheitliche Aspekte

Auch ganzheitliche ökologische Aspekte betreffend der konkreten Nutzungsfläche und der ökologischen und ästhetischen Qualität ihrer zukünftigen Nutzung (Stichwort Freiflächenplanung) müssen unter den Vorzeichen der oben dargestellten Gegenwartsherausforderungen Schwerpunkt der Betrachtung werden. Nicht die konkrete Flächeninanspruchnahmezahl x alleine kann und darf in der Diskussion ausschlaggebend sein. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit trotz einer planerischen Nutzungsänderung Bodenfunktionen einschließlich der landwirtschaftlichen Urproduktionsmöglichkeit erhalten oder sogar verbessert werden, Raum für Biodiversität erhalten oder gar geschaffen werden und inwieweit positive Effekte für Klima, Wasser- und Naturhaushalt unterstützt werden.

Baukultureller Wandel

Daraus folgt, dass wir mehr denn je eine Debatte über eine ganzheitliche Landnutzungskultur und eine Mehrnutzungsstrategie brauchen. Agri-PV, produktionsintegrierte Maßnahmen im Rahmen der Eingriffsregelung, Dachbegrünungen, siedlungsinterner Ausgleich, Biodiversität im Siedlungsbereich, das Bauen in die Tiefe und in die Höhe oder die Doppelnutzung von Verkehrswegen für notwendige Infrastrukturen sind die Stichworte. Anders werden die ökologischen, die sozialen und die ökonomischen Herausforderungen der kommenden Jahre nicht zu vereinbaren sein.

Überdies bedarf es einer Diskussion über einen baukulturellen Wandel hin zu mehr Flächeneffizienz, auch bei der Wohnraumschaffung. Der Anspruch der Menschen an die ihnen zur Verfügung stehende Wohnfläche hat in den vergangenen Jahren weiter zugenommen. Es ist weiterhin der Wunsch vieler Menschen, dass sie in ihrem Garten „zwei gegen zwei“ Fußball spielen können. Hierüber ist freilich kritisch zu diskutieren. Es kann nicht sein, dass knappe Flächen für wenige Menschen überplant werden. Die Städte und Gemeinden sind freilich aufgerufen, ihr Wohnraumangebot orientiert an den Bedürfnissen der Menschen, flächen- und folgekosteneffizient, vielfältig sowie umwelt- und sozialgerecht auszugestalten. Der diesbezügliche Wandel ist bereits eingeleitet. Diverser ausgestaltete Wohnbauvorhaben, auch im ländlichen Raum, werden mehr und mehr zum Standard. Doch die Debatte und die guten Beispiele müssen weiter ins Land getragen werden.

Und natürlich müssen wir weiter darüber sprechen, warum staatlicherseits nicht alles darangesetzt wird, der Innenentwicklung und dem Innenentwicklungs-management noch mehr Rückenwind zu geben: Wer auf die selbstverständlich wichtige und vorrangige Innenentwicklung verweist, muss den Gemeinden auch die hierfür notwendigen rechtlichen Instrumente zur Verfügung stellen. Wo Vorkaufsrechte, Baugebote und eine Grundsteuer C als Enteignungen fehlinterpretiert und diffamiert werden, sei dringend angeraten, sich mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums in unserer Verfassungsordnung zu befassen.

Auch hier ist dem oben zitierten Gutachten ein Punkt zu entnehmen. So wird dort festgestellt, dass das rechtliche Instrumentarium zur Mobilisierung von Innenentwicklungspotenzialen aufgrund rechtlicher Komplexität und der Eigentumsdebatte nur selektiv genutzt wird und der Gesetzgeber die Vorschläge des „Bayerischen Gemeindetags“ daher „möglichst rasch umsetzen sollte“.

Die Debatte um eine gegriffen wirkende Zahl hat uns zu lange den Blick für sachgerechte, realistische, ökologisch, ökonomisch und sozial abgewogene und damit zukunftsgerechte Lösungen versperrt. Ich bleibe dabei: Es ist ein Irrsinn, die Gebietskörperschaften in ihrer Planungshoheit zu beschränken, die den notwendigen Transformationsprozess im Bereich von Energie, Klima, Mobilität, Wohnen und sozialer Teilhabe planerisch effizient umsetzen sollen und müssen. Und es ist freilich völlig aus der Zeit gefallen, dringend notwendige Planungen mit weiteren Bürokratiehürden aufzuladen und dadurch auszubremsen. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung: „Wir werden das Baugesetzbuch mit dem Ziel novellieren, seine Instrumente noch effektiver und unkomplizierter anwenden zu können, Klimaschutz und -anpassung, Gemeinwohlorientierung und die Innenentwicklung zu stärken sowie zusätzliche Bauflächen zu mobilisieren und weitere Beschleunigungen der Planungs- und Genehmigungsverfahren vorzunehmen.“

Verengte Debatte öffnen

Schon derzeit häufen sich die Klagen aus Städten und Gemeinden, dass ein zunehmender, rein abstrakt und theoretisch begründeter Rechtfertigungsdruck vonseiten der staatlichen Behörden Wohnraumprojekte ausbremst. Wie passen diese staatlicherseits geforderten Gutachterschlachten bei der Wohnraumschaffung mit den Ideen des Gesetzgebers zusammen? Öffnen wir die verengte Fünf-Hektar Debatte. Reden wir über Maßnahmen zur Klimaanpassung am Bau und über ökologische und ästhetische Qualitäten der Nutzung von Fläche. Diskutieren wir über Mehrnutzungsstrategien und eine neue Landnutzungskultur. Und sprechen wir über einen baukulturellen Wandel und Innenentwicklung. Schaffen wir kein weiteres Bürokratiemonster in Zeiten ohnehin komplexer Verfahren. Auch mit Blick auf die Fortschreibung des Landesentwicklungsprogramms. Die Herausforderungen sind zu groß dafür. Wir stehen für eine Diskussion bereit.
(Uwe Brandl)

(Der promovierte Autor ist Präsident des Bayerischen Gemeindetags, Vizepräsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds und Bürgermeister der Stadt Abensberg - Landkreis Kelheim.)

 

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