Wirtschaft

Für Ralf Holtzwart hat die Ganztagsschule zwei große Vorteile: Erstens sorgt sie für eine intensive Förderung eines jeden Kindes und zweitens ermöglicht sie den Müttern eine stressfreie Berufsausübung. (Foto: Schweinfurth)

17.05.2013

„Wir brauchen flächendeckend die Ganztagsschule“

Chef der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit über Fachkräftemangel, gut ausgebildete Frauen und ungelernte Arbeitskräfte

Fachkräftemangel auf der einen und Langzeitarbeitslose auf der anderen Seite – wie passt das zusammen? Über dieses und andere Themen sprachen wir mit Ralf Holtzwart, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit. BSZ: Herr Holtzwart, in welchen Bereichen fehlen denn derzeit die meisten Fachkräfte in Bayern?
Holtzwart: Bei sozialen und technischen Berufen. So kommen in der Altenpflege aktuell nur 27 Arbeitslose auf 100 offene Stellen, im Bereich Elektrotechnik bleiben Stellenangebote im Durchschnitt länger als 100 Tage vakant. BSZ: Warum ist das denn so?
Holtzwart: Weil die gut ausgebildeten Fachkräfte in den industriellen Sektor abwandern und dann im Handwerk fehlen. BSZ: Das trifft aber nur auf den technischen Bereich zu. Warum fehlen die Leute im sozialen?
Holtzwart: Weil das psychisch und physisch sehr fordernde Berufe sind, die kaum gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Außerdem dauert die Ausbildung bis zu fünf Jahre und danach sind die Verdienstmöglichkeiten eher bescheiden. BSZ: Wie kann man dem Ganzen begegnen?
Holtzwart: Es muss ein Mentalitätswandel einsetzen. Die Anerkennung der Frau muss endlich gestärkt werden. Insgesamt lief es unter dem Aspekt Überwindung von Rollenklischees in beruflicher Hinsicht in den Ländern des früheren Ostblocks besser. Zudem fehlen in der Erziehung männliche Vorbilder. Jetzt wo es keinen Zivildienst mehr gibt, haben junge Männer eine Möglichkeit weniger, ihre Neigung für soziale Berufe zu entdecken. BSZ: Was muss denn geschehen, damit dieses Rollenverhalten überwunden wird?
Holtzwart: Wir müssen schon im frühkindlichen Alter ansetzen und dies dann in alle Schultypen fortführen. Es gibt 330 Lehrberufe und trotz der Vielfalt konzentriert sich das Interesse von etwa der Hälfte der Bewerber seit Jahren immer auf die gleichen zehn Berufe. Wir brauchen ein gesellschaftliches Umfeld, in dem es Spaß macht, sich auszuprobieren und wo man als Mädchen von den Freundinnen nicht schräg angeschaut wird, weil man sich für Mathe oder Physik interessiert. Das gilt umgekehrt für Jungs, wenn die sich für typisch weibliche Tätigkeitsfelder interessieren. BSZ: Was ist denn so schlimm daran, in den Rollenklischees zu verharren?
Holtzwart: Unsere Bevölkerung schrumpft und damit auch das Angebot an Arbeitskräften. Schon heute haben wir in Bayern mehr Ausbildungsstellen als Bewerber. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf weniger begehrte Ausbildungsberufe wie zum Beispiel Bäcker oder Metzger. Angebot und Nachfrage müssen unabhängig vom Geschlecht bestmöglich zusammengebracht werden. Die jungen Menschen können aus einer breiten Palette an Ausbildungsberufen wählen und sollte diese Vielfalt entsprechend ihrer Interessen und Fähigkeiten auch nutzen. BSZ: Kann Zuwanderung helfen, den Fachkräftebedarf zu decken?
Holtzwart: Wenn wir uns nur um die Frage der Zuwanderung von Fachkräften kümmern, ist das zu wenig. Das heimische Potenzial bleibt auf der Strecke. Gerade unsere gut ausgebildeten Frauen stehen nach der Geburt der Kinder zum Teil nicht mehr für den Arbeitsmarkt zur Verfügung. BSZ: Was muss sich denn ändern?
Holtzwart: Wir brauchen flächendeckend die Ganztagsschule in Deutschland, auch in Bayern. Denn diese hat zwei große Vorteile. BSZ: Welche?
Holtzwart: Erstens sorgt sie für eine intensive Förderung eines jeden Kindes und zweitens ermöglicht sie den Müttern eine stressfreie Berufsausübung. BSZ: Wie sieht es denn mit den gering beziehungsweise kaum qualifizierten Menschen aus?
Holtzwart: In Bayern gibt es etwa 25.000 unter 25-Jährige, die keine Arbeit finden. Von diesen hat etwa die Hälfte keine abgeschlossene Berufsausbildung und 1000 sind langzeitarbeitslos. Hier arbeiten wir intensiv mit den Kommunen zusammen und gehen in die Betriebe, um Beschäftigungsperspektiven für diese Menschen zu entwickeln. BSZ: Brauchen die denn überhaupt Ungelernte?
Holtzwart: Ja, zum Beispiel in der energetischen Sanierung. Um diese immense Aufgabe im Zuge der Energiewende bewältigen zu können, gibt es in den Unternehmen ein oder zwei Leute, die sich spezialisieren. Die fehlen dann, um die Aufträge abzuarbeiten. Jetzt kommen wir ins Spiel. Denn wir schieben die Helfer nach, die die etwas einfacheren Tätigkeiten ausüben können. Im Rahmen des Programms WeGebAU kann zudem die Weiterbildung von geringqualifizierten Beschäftigen in klein- und mittelständischen Unternehmen gefördert werden. Das wird von den Unternehmen noch viel zu wenig genutzt. BSZ: Und was wird mit Bayerns Sorgenkind Nürnberg passieren? Dort bewegt sich die Arbeitslosenquote ja konstant zwischen 7 und 8 Prozent.
Holtzwart: Zuerst muss man einmal feststellen, dass der Einpendlersaldo positiv ist. Das heißt, dass jeden Tag 50.000 Menschen mehr aus dem Umland in die Stadt zum Arbeiten kommen, als Menschen aus der Stadt auspendeln. Dies wirkt sich dann jedoch nur positiv auf die Arbeitslosenquote des Umlands aus. Zudem gibt es nicht ausreichend Jobs für Geringqualifizierte. Da erhoffe ich mir jetzt Impulse durch den Energiecampus.
BSZ: Wie das denn? Der Energiecampus braucht doch hochqualifizerte Spezialisten.
Holtzwart: Der Campus selbst ja. Aber es werden sich Familien ansiedeln. Und die brauchen Ärzte, Bäcker, Erzieher, Arzthelfer, etc. Ähnlich gute Impulse hat zum Beispiel der Technologiecampus in Cham in der Oberpfalz gegeben. Die dortige Mechatronikregion hat sich super entwickelt. Sie profitiert inzwischen von der Zuwanderung aus der Tschechischen Republik. BSZ: Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten in Bayern für innovative Projekte?
Holtzwart: Zum Beispiel in Oberfranken. Dort sollten die Unternehmen versuchen, die alte Webtechnikindustrie zu einer modernen Werkstoffindustrie umzustrukturieren. Gleiches gilt für die Keramikindustrie. Anstelle von Tellern könnte man über die Produktion von Bremsscheiben nachdenken. Hier sind Forschung und innovative Ideen gefragt, um die vorhandenen traditionellen Industriezweige der veränderten Nachfrage am Markt anzupassen, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. BSZ: Viele Menschen können ja von ihrem Einkommen nicht leben und brauchen einen Zweitjob. Was machen Sie mit denen?
Holtzwart: Hier muss man unterscheiden zwischen Personen, die Teilzeit arbeiten und daher ein entsprechend geringes Einkommen erzielen und Personen, die trotz Vollzeitjob noch auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Personen, die zwar in Beschäftigung sind, aber eine umfangreichere oder besser bezahlte Tätigkeit suchen, können sich bei den Agenturen für Arbeit arbeitssuchend melden, damit sie weiterhin Stellenangebote von uns erhalten. BSZ: Sie helfen denen also, einen Zweitjob zu finden?
Holtzwart: Das kommt auf den Vermittlungswunsch an. Entweder suchen wir eine weitere Teilzeittätigkeit oder einen besser bezahlten Vollzeitjob, der dann auch der einzige Job sein sollte.
(Interview: Ralph Schweinfurth)

Kommentare (1)

  1. Akademiker und Mutter am 22.05.2013
    Als Mutter mit zwei Kindern (4 und 7), einem wiklich guten Diplom (FH) Abschluss, einer guten Ausbildung und vielen Jahren Berufserfahrung ist es mir trotz Kinderbetreuung nicht möglich einen qualifizierten Job zu erlangen. Kinderbetreuung heißt für mich, dass ich ohne Hektik Teilzeit ca. 25 Std. in der Woche arbeiten kann. Somit kann ich meinen Job und meine Kindererziehung optimal verbinden. Ich kann meinen Kindern Wissen und Erfahrung geben, die in Kitas nicht vermittelt werden können. Für Schulkinder ist mit der Ganztagesschule der erste Schritt in die richtige Richtung gemacht. Jedoch lässt sich auch hiermit nicht das Ferienproblem lösen. Welches enorm ist! Welcher "normaler" Arbeitnehmer kann diese mit seinem Urlaub abdecken? Niemand! Habe ich einen Partner, kann ich die Ferien gemeinsam meistern, aber lebe den Kindern kein Familienleben mehr vor. Wo ich wieder bei den mir sehr wichtigen Werten angelangt bin. Meine Lösung dafür wäre die Betreuung der Schulkinder durch Lehrer, Erzieher, Studenten in der Schule in den Ferien. Kosten dafür sind selbstverständlich von den Eltern zu bezahlen. Somit kann sich jeder Arbeitnehmer Urlaub nehmen wann er dies möchte und nicht wann dies vordiktiert wird und es somit in Unternehmen zu Engpässen kommt. Die Legitimation und die Notwendigkeit der Ferienanzahl für Lehrer steht auf einem anderen Blatt.
    Zudem sehe ich ein Problem in der Einstellung vieler Arbeitgeber, die auf der einen Seite laut befürworten, dass auch sie Mütter einstellen aber auf der anderen Seite nur unqualifizierte Stellen halbtags anbieten. - Die man als Akademiker aber dann meist auch nicht bekommt, da man "überqualifiziert ist -.
    Es ist aus meiner Sicht nicht verständlich warum sich zwei Mütter keine hoch qualifizierte Stelle teilen können. Alle Argumente dagegen, gelten für jeden Arbeitnehmer und haben nichts mit Teilzeit, Vollzeit, Kindern oder der Dotierung der Stelle zu tun. Grade Mütter die erfolgreich waren bevor die Kinder auf die Welt gekommen sind, leben in ihrem Job auf und engagieren sich besonders stark.
    Vielen Dank.
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