Leben in Bayern

Anna Felfi zeigt nach ihrer Rückkehr auf der Karte den Einsatzort – im Januar wird sie wieder nach Haiti reisen. (Foto: Goetsch)

16.12.2016

Armut, Müll und jede Menge Chaos

Habgierige Zöllner, Überschwemmungen und großes Leid: Wie eine 27-jährige Münchnerin ihren ersten Einsatz für die bayerische Hilfsorganisation Humedica erlebt hat

Ein furchtbarer Hurrikan wütet in Haiti. Nur fünf Tage später koordiniert die Münchnerin Anna Felfeli im Katastrophengebiet den Einsatz von Humedica vor Ort. Das Ziel: medizinische Hilfe bringen in entlegenste Ecken der Insel. Es ist eine gefährliche Mission, auf die sich die 27-Jährige begibt. Teile des Landes sind völlig abgeschnitten vom Verkehr. Alles wirkt beschaulich im Kaufbeurer Stadtteil Neuglabonz. Wohnhäuser. Stille Straßen. Nur im Haus der Hilfsorganisation Humedica geht es in der Vorweihnachtszeit etwas hektischer zu, aber das soll ja so sein. Täglich trudeln Päckchen ein, tonnenweise bunt beklebte Schuhkartons mit Schleifen. Dreißig Ehrenamtliche öffnen in der Lagerhalle die Kartons vorsichtig, prüfen, ob auch alles drin ist: ein Kuscheltier und etwas zum Waschen und Zähneputzen, Malsachen, Schulhefte, Süßigkeiten und Kleidung. Fehlt was, füllen sie nach. Dann werden die Päckchen abgeholt und nach Süd- und Osteuropa geschafft. Die Aktion „Geschenk mit Herz“, die Humedica mit der Benefizaktion Sternstunden stemmt, gibt es seit 14 Jahren.

Gegenüber der Lagerhalle sitzt Anna Felfeli in ihrem Büro. Not- und Katastrophenhilfe steht auf dem Schild an der Tür. Die 27-Jährige hat im vergangenen Jahr ihr Studium der Kulturwirtschaft in Passau abgeschlossen und im Januar bei Humedica begonnen. Sie wohnt in einer WG im Münchner Westen, um schnell auf der Autobahn nach Kaufbeuren zu sein. An einem normalen Arbeitstag schmiert sie sich ein Brot, füllt Kaffee in einen Thermobecher und frühstückt im Auto. Dabei telefoniert sie. Am liebsten mit Inge Lindau, 81, zugleich Oma und beste Freundin. Aber Anfang Oktober war nichts mehr normal. Ein Hurrikan fegte über Haiti hinweg.

Eine extreme Anspannung - von Anfang an

Wenn eine solche Katastrophe irgendwo in der Welt geschieht, spürt man das auch in Neuglabonz. In dem weißen Wohnhaus der Hilfsorganisation wird dann „mobilisiert“, wie es bei Humedica heißt. Man organisiert Flüge. Fragt Ärzte auf einer Liste Ehrenamtlicher an, ob sie kurzfristig Urlaub nehmen und mitfliegen können. Holt das nötige Equipment aus dem Keller, wo sich Koffer und Kleidung stapeln. Schafft aus einem zweiten Lager die Medikamente heran. Und hält dabei immerzu Kontakt mit Leuten am Katastrophenort. All das geht sehr schnell. Am Ende schickt Humedica ein Team „ins Feld“, das aus einem Koordinatoren und mehreren Medizinern besteht.

Nur fünf Tage waren nach Ausbruch des Hurrikans in Haiti vergangen, als Anna Felfeli noch mal fest von ihren Kollegen gedrückt wurde. Dann brach sie im Bus auf zum Frankfurter Flughafen, mit 18 Kisten Material und ihrem mittelgroßen, roten Rucksack, darin eine extra dünne Trekkinghose, Gummistiefel, T-Shirts von Humedica, Sonnenmilch Schutzfaktor 50, ein Mittel gegen Moskitos, ein paar Kultursachen und Wäsche. Es war ihr erster Einsatz. Eine Reise ins Ungewisse.

Das Abenteuer scheint zur Persönlichkeit der jungen Frau zu passen. Schon als Kind war sie aufgeschlossen und ziemlich unerschrocken. „Ging man mit ihr zum Schwimmenlernen“, erzählt die Oma, Inge Lindau, am Telefon, „sprang die Anna einfach rein. Auch beim Skilaufen hatte sie keine Angst und beim Snowboarden.“ Ein bisschen draufgängerisch sei ihre Enkelin von jeher. Eine, die gut organisieren könne. „Sehr mutig und zugleich zart und stark.“

Immer wieder hat Felfeli in der Vergangenheit große Reisen gemacht. Sie war in Bolivien und in Peru und in Kuba. Ein Jahr verbrachte sie in Buenos Aires. Ihr Bewerbungsgespräch führte sie aus Kolumbien via Skype. Im Sommer hat sie das Flüchtlingslager im Libanon besucht, das Humedica unterhält. Ihr Vater ist Libanese; in den 70er Jahren floh seine Familie nach Frankreich, später studierte er Medizin in Deutschland. Vielleicht, sagt Felfeli, sei sie darum so offen für andere Kulturen. „Ich liebe die Fremde und lerne gern neue Systeme kennen mit ihren anderen Lebensformen, den sichtbaren und den unsichtbaren Regeln, der Sprache und Mentalität.“ Sie genießt das Freiheitsgefühl, die Unabhängigkeit beim Reisen.

„Strukturen fehlen völlig, das ist sehr gefährlich“

Aber in eine Katastrophe hineinzufahren ist etwas ganz Anderes. „Es war eine extreme Anspannung“, sagt sie, „von Anfang an.“ Das viele Gepäck am Flughafen. Die Warterei an der Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti. Stundenlang wurden sie aufgehalten, weil die Zöllner Geld für die Medizin verlangten, die sie bei sich hatten, Humedica aber solches Geld nicht zahlt. „Dazu dieses Gefühl, nicht zu wissen, wo es hingeht.“

Was sie dann sah, war schockierend. „Die Armut ist extrem. Überall Müll und Chaos. Die Überschwemmungen. Die Hitze. Strukturen fehlen völlig. Es ist völlig chaotisch und sehr gefährlich dort.“ Felfeli klickt sich am Laptop durch zu einer Karte von Haiti, zoomt näher heran. Dünne Linien zeigen Straßen an, die im Nichts enden. „Lauter Huckelwege“, sagt sie. Die Flüsse seien über die Ufer getreten, Teile des Landes völlig abgeschnitten vom Verkehr.

Einen ganzen Tag verbrachte sie in Port au Prince auf Meetings mit anderen Hilfsorganisationen, dem haitianischen Gesundheitsministerium, dem örtlichen Zivilschutz, der deutschen Botschaft. Unterdessen fuhr Gladys Thomas, eine Kontaktfrau vor Ort, mit vollbepacktem Pickup zu den Ärmsten der Armen und verteilte Essen. Die einen packen an, die anderen konferieren. „Als Gladys uns am Abend damit konfrontierte, musste ich schlucken“, sagt Felfeli.

Aber sie weiß natürlich, dass die Vorbereitungsphase eines Einsatzes extrem wichtig ist. Und man nicht einfach als Hilfsorganisation in ein fremdes Land einfallen kann, als hätte dieses keine eigenen Regeln und Gesetze – auch wenn die Regierung des Landes noch so schwach ist.

Ziel der Reise war eine Gegend, die keiner seit dem Unglück besucht hatte. Mit dem Boot fuhr das Team von Miragoane nach Baradéres, wo es im Ordenshaus einer Schwester untergebracht wurde, zu der Anna Felfeli bereits von Kaufbeuren aus Kontakt gehabt hatte. „Alles war zerstört, die Palmen lagen flach da. Das Wasser strömte durch die Straßen der Stadt.“ Anna Felfeli ging durch den Ort, um sich ein Bild zu machen. Sie fotografierte, zählte Häuser. „Die Zerstörung war echt heftig. Das hat mich richtig getroffen.“ Überall Wasser. Trümmer. Einsturzgefährdete Häuser, in denen trotzdem Menschen lebten. Im ersten Stock einer Notunterkunft saßen zwei Jugendliche und sahen sie feindselig an. „You are foolish, you are a lyer“, sagten sie. Du bist dumm, du bist eine Lügnerin. „Das hat mich getroffen. Aber ich dachte: Okay, ich kann das verstehen.“ Woher sollten die Jugendlichen wissen, dass Anna Felfelis Arbeit den Einsatz der Ärzte überhaupt erst ermöglichte?

Fünf Tage verbrachte das Team dort. Bis zu sechzig Patienten täglich wurden von den Ärzten versorgt. Darunter ein neunjähriges Kind mit einer riesigen Fleischwunde am Rücken. Ein Balken war auf den Jungen geknallt. Anna Felfeli war dabei, als er medizinisch versorgt wurde. Das Zusehen fiel ihr schwer.

Ohne den Einsatz wäre ein neunjähriger Bub gestorben

Bis zu ihrer Rückkehr stand Felfeli unter Strom. Schlief zu wenig, schrieb laufend E-Mails an die Zentrale. Inzwischen ist sie aus Haiti zurück. Hat ihre E-Mails noch mal gelesen und findet sie wirr und emotional. Wie die meisten E-Mails, die aus „dem Feld“ kommen.

Von Neuglabonz aus betreut sie Haiti weiter. Es ist ein merkwürdiger Kontrast. „Man befindet sich im sicheren Deutschland, im kleinen Allgäu, und ist mit dem Kopf im Einsatzgebiet.“ Aber dass auf dieser Welt alles mit allem zusammenhängt, ist ihr schon lange klar, schließlich hat sie sich an der Uni auch mit Wirtschaftsethik befasst. „Vielleicht ist man sensibler für die globalen Zusammenhänge, wenn man viele Länder bereist hat.“ Inzwischen ist auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen in Baradéres. Der Junge mit dem offenen Rücken wurde erfolgreich operiert. Die Ärzte sagen: Ohne den Einsatz von Humedica hätte er nicht überlebt.

Felfelis Oma hat das Geschehen in Haiti im Fernsehen verfolgt und im Internet, auf ihrem Tablet. Sie hat Fotos betrachtet und sich erzählen lassen, was am anderen Ende der Welt vor sich geht. Daran, dass ihre Enkelin in Katastrophengebiete reist, kann sie sich wohl nie gewöhnen. „Als Oma“, sagt sie, „hat man immer Angst.“

Anna Felfeli wird sie auf dem Laufenden halten, wenn sie im Januar wieder nach Haiti fährt. Sie freut sich auf die Reise. „Ich weiß ja jetzt“, sagt sie, „wohin ich fahre.“ (Monika Goetsch) Foto (Humedica): Ankunft in Baradère: Anna Felfeli und ihr Team mussten eine Stunde durch Schlamm und Matsch waten – mit der Hilfe von Anwohnern.

Kommentare (1)

  1. Hugo Sotil am 16.12.2016
    Spannende Geschichte, bemerkenswerter Einsatz einer bewundernswerter Frau. Wirklich beeindruckend. Danke dafür und frohe Weihnachten.
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