Politik

Die Bahnhofsmissionen bieten Menschen in Not eine Anlaufstation. (Foto: dpa/Kneffel)

26.04.2024

Bedürftige haben Reisende abgelöst

Zum „Tag der Bahnhofsmission“ klagen die Verantwortlichen, dass immer mehr Arme bei ihnen Hilfe suchen

Soziale Anlaufstellen berichten, dass sie im Moment so viele Zugänge wie kaum je zuvor haben. Das betrifft nicht zuletzt die Bahnhofsmissionen. „Derartige Hilfe-Kontaktzahlen haben wir seit 70 Jahren nicht mehr erlebt“, sagt Michael Lindner-Jung von der Bahnhofsmission in Würzburg anlässlich des Tages der Bahnhofsmission am 27. April. 65.600 Mal wurde 2023 in Würzburg nach Hilfe gefragt. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Nachfrage um rund 10 Prozent.

Obdachlose, die vorgestern vielleicht in Wiesbaden und gestern in Frankfurt waren, machen beim Durchreisen gen Süden in der Würzburger Bahnhofsmission Stopp. Wobei sie keineswegs das Gros der Gäste stellen. Bei vielen Hilfesuchenden handelt es sich um Bürger*innen aus Stadt oder Landkreis Würzburg. Sie kommen in die Bahnhofsmission, weil sie sehr arm, einsam oder seelisch krank sind. Wie dramatisch die Zahlen stiegen, zeigt der Vergleich zwischen 2023 und dem Vor-Krisen-Jahr 2019. Innerhalb dieser vier Jahre sprang die Nachfrage nach Hilfe um 45 Prozent nach oben.

Bereits Ende 2021 warnte Bruno Nikles, Vorsitzender des Vereins Bahnhofsmission Deutschland, davor, dass die soziale Not nicht zuletzt als Folge der Corona-Krise größer wird. Er sollte recht behalten. Die Bahnhofsmission Würzburg, so Michael Lindner-Jung, sei inzwischen die „erste und letzte Anlaufstelle“ für Menschen, deren Leben von „oft einschneidenden Mangel-, Verlust- oder Gewalterfahrungen“ geprägt ist. In die Einrichtung kommen laut dem Theologen Menschen ohne Wohnung und ohne Arbeit. Und es kommen Arme: „Manche unserer Besucher hatten in den Corona-Jahren ihre letzte Verdienstmöglichkeit verloren.“ Auch Kranke, Behinderte und vor allem psychisch Beeinträchtigte wenden sich an die Einrichtung am Würzburger Hauptbahnhof. Häufig ist das haupt- und ehrenamtliche Team mit Angstzuständen konfrontiert. Aber auch mit Depressionen, psychotischen Zuständen, Suchterkrankungen und Drogenabhängigkeit haben es die Mitarbeiter*innen oft zu tun.

Durch den Krieg in der Ukraine explodierte die Zahl der hilfesuchenden Geflüchteten. Sie machen inzwischen nahezu ein Drittel aller Hilfskontakte in Würzburg aus. Zwischen 2019 und 2023 sprang die Zahl der ausländischen Hilfesuchenden um über 80 Prozent nach oben.

Heizung sparen daheim

Eigentlich sollte in ganz Europa kein Mensch gegen seinen Willen auf der Straße leben müssen, enthält die Europäische Sozialcharta doch ein „Recht auf Wohnen“. Bis 2030 soll Obdachlosigkeit einer Resolution von 2020 zufolge EU-weit abgeschafft sein. Aktuell geschieht laut Münchner Bahnhofsmission jedoch genau das Gegenteil: Die Obdachlosenzahlen steigen. Überhaupt befinden sich den beiden Leiterinnen der ökumenischen Einrichtung in der Landeshauptstadt zufolge viel mehr Menschen als vor den Krisenjahren in „bedrohlichen Nöten“.

Was die Leitungen der Bahnhofsmissionen in Würzburg und München just erleben, deckt sich mit den Erfahrungen aus Nürnberg. „Wir können den Andrang gerade so bewältigen“, sagt die dortige Einrichtungsleiterin Anita Dorsch. Innerhalb von fünf Jahren sprang die Zahl der Gästekontakte hier um 42 Prozent nach oben. Und zwar von knapp 18 100 Kontakten im Jahr 2018 auf über 26.000 Kontakte im vergangenen Jahr.

„Was gibt es denn heute zu essen?“ Vor allem diese Frage hört das Team oft. Im Herbst und im Winter war der Ansturm laut Anita Dorsch kaum zu bewältigen. „Wir haben Gäste, die bei uns am Morgen und am Abend zum Essen vorbeikommen, da ihnen das Geld nicht zum Leben reicht“, schildert sie. Diese Menschen gehen aber auch deshalb in die Bahnhofsmission und andere soziale Einrichtungen in Nürnberg, um zu Hause Kosten für Strom und Heizung zu sparen.

In Nürnberg gibt es ebenso wie in München und Würzburg ein umfassendes System der Hilfe für Menschen in massiver sozialer Not. Dass die EU ihr Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen, erfüllen könnte, erscheint auch mit Blick auf die mittelfränkische Regierungshauptstadt illusorisch. „Die Stadt Nürnberg veröffentlichte im November 2023 aktuelle Zahlen, demnach waren 2435 Menschen offiziell obdachlos“, berichtet Anita Dorsch. Hinzu kämen „verdeckte“ Obdachlose, die keine Anlaufstellen aufsuchen: „Sie übernachten zum Beispiel bei Bekannten auf der Couch oder im Freien.“

Auch in Aschaffenburg registriert das Team einen „heftigen Anstieg“ von Armut. „Zunehmend mangelt es an einer existenziellen Versorgung“, sagt Einrichtungsleiterin Sandra Bauer-Böhm. Was die Ernährung anbelangt. Das Wohnen. Und auch eine niederschwellige medizinische Versorgung. Besonders hart betroffen seien junge Menschen unter 28 sowie Alte mit magerer Rente. 

Früher kam es eher selten vor, dass sich Jugendliche in die Bahnhofsmission verirrten. Im vergangenen Jahr hingegen suchten in der vom Katholischen Verband In Via für Mädchen- und Frauensozialarbeit getragenen Einrichtung in Aschaffenburg 111 Teenager Hilfe. „Ihre Zahl hat sich verdoppelt“, so Sandra Bauer-Böhm. In vielen Fällen handelte es sich um junge Menschen, deren Familie nicht aus Deutschland stammt. Viele befänden sich in existenziellen Notlagen „wie Obdachlosigkeit und finanzielle Schwierigkeiten“.

Wie alle anderen Bahnhofsmissionen in Bayern hat es die Aschaffenburger Einrichtung häufig mit psychisch Beeinträchtigten zu tun. Auch Süchtige suchen die Bahnhofsmission auf. Das Team in Aschaffenburg beobachtet, dass zunehmend harte Drogen konsumiert werden. Insgesamt wurden 2023 fast 19 650 Kontakte registriert. In lediglich 47 Fällen baten Reisende um Unterstützung. Die meisten Menschen, die in die Aschaffenburger Bahnhofsmission kommen, wollen etwas zu essen und zu trinken haben. Nicht selten wird außerdem um einen Schlafsack gebeten. (Pat Christ)
 

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