Politik

Gleichberechtigt im Team arbeiten: Das liegt im Trend. (Foto: Getty)

10.03.2017

Der Traum vom Job ohne Chef

Hierarchiefreie Unternehmen liegen im Trend – zu deren Vorzügen zählt vor allem höhere Produktivität

Selbstbestimmt arbeiten. Keinen Anweisungen folgen müssen. Viele Arbeitnehmer träumen vom hierarchie-freien Unternehmen. Aber kann das funktionieren?

Der Textilproduzent W.L. Gore, bekannt für seine Marke Gore-Tex, ist sogar seit mehreren Jahrzehnten fast hierarchiefrei. Die Ingenieure und Fabrikarbeiter wählen immer wieder selbst aus, wer die Führung übernimmt und wer zuarbeitet. Weisungshierarchien gibt es keine. Gerade das sei der Grund, heißt es bei Gore, dass man innovativ bleibe und als Arbeitgeber beliebt sei.

Gore-Mitarbeiter heißen nicht Angestellte, sondern Associates und müssen sich an vier Grundprinzipien halten, die um Einsatzbereitschaft, fairen Umgang und eigene Ideen kreisen. Das vierte Prinzip beinhaltet eine Reißleine: Bei Entscheidungen, die dem Unternehmen größeren Schaden zufügen könnten, sogenannten Waterline Decisions, bedarf es der Abstimmung mit Kollegen.

Führungskräfte wie der ehemalige Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger sprechen daher auch lieber von „Hierarchiearmut“ als von komplett hierarchiefreien Unternehmen: „So gut wie kein Unternehmen ist völlig führungslos, an der Spitze steht immer noch ein Gründer oder Geschäftsführer“, sagt Sattelberger. Dennoch seien Führungsprozesse kluger Unternehmen zunehmend flacher und zeitsparender als in althergebrachten Strukturen. „Unternehmen gehören zu den letzten Bereichen unserer Gesellschaft, in denen Demokratie und Souveränität noch vor der Hauptverwaltung oder dem Werkstor Halt machen“, diagnostiziert Sattelberger. Bei moderner Führung sei aber nicht mehr die autoritäre Leitfigur gefragt, sondern der Netzwerker. Er moderiert als eine Art Coach heterogene Teams, die durch Vielfalt an Produktivität gewinnen.

Der Chemnitzer Soziologe Günter Voß hingegen warnt vor einer Falle: Wer als Angestellter immer selbstverantwortlicher, innovativer und unternehmerischer handeln müsse, überlaste sich irgendwann. Die Eigenorganisation führe zudem oft dazu, „dass man nicht mehr einschätzen kann, wann es genug ist“.

„Nicht fragen. Machen!“

Ganz neu ist die Idee der Selbstorganisation nicht. Der Brasilianer Ricardo Semler, Gründer des Maschinenbau-Unternehmens Semco, hat 1993 den Bestseller Das Semco-System – Management ohne Manager veröffentlicht. Mit der umgestellten Unternehmenskultur gelang es Semler, seinen Umsatz zwischen 1990 und 1996 auf 100 Millionen US-Dollar zu verdreifachen und die Mitarbeiterfluktuation auf nur ein Prozent zu drücken. Semler demokratisierte seine Unternehmensprozesse, baute Bürokratie und Verwaltung ab. Heute ist Semco ein partnerschaftlich geführtes Investmentunternehmen, das seine Philosophie in andere Unternehmen trägt.

Gut und schön. Aber funktioniert all dies auch in Mitteleuropa? W.L. Gore zum Beispiel hat vier Standorte in Bayern. Das Unternehmen gehört zur Gruppe der 200 größten US-Privatfirmen. Der Umsatz soll 2014 bei 3,2 Milliarden US-Dollar gelegen haben, und seit der Gründung vor 56 Jahren wurde noch nie Verlust gemacht.

Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Hierarchiearmut ist das schwedische Unternehmen Spotify, der größte Musik-Streaming-Dienst der Welt. Dort sehen sie es so: Ein guter Mitarbeiter trifft in 70 Prozent aller Fälle dieselben Entscheidungen wie sein Chef. In 20 Prozent fällt er bessere Entscheidungen, weil er von der Sache mehr Ahnung hat. Und in 10 Prozent liegt er daneben. Spotify-Gründer Daniel Eks Motto lautet daher: „Nicht fragen. Machen.“ Die richtig guten und innovativen Schritte, die ein Unternehmen voranbringen, blieben sonst aus. „Man muss kluge Köpfe nur machen lassen“, sagt Ek.

Ähnlich sieht man es auf der schwäbischen Alb. Der Maschinenbauer Hema wurde für sein innovatives Projektmanagement nach dem „Scrum“-Prinzip mehrfach ausgezeichnet. Scrum ist ein Begriff aus dem Rugbysport und steht für „Gedränge“. Konkret bedeutet das, dass sich Projektteams täglich treffen, die Teammitglieder wechselnde Rollen einnehmen. Bei Hema hat man alle Hierarchiestufen bis auf den Geschäftsführer abgeschafft. Über Urlaubsgenehmigungen entscheiden die Kollegen im Team. Besprechungen finden grundsätzlich zwanglos statt und im Stehen.

Der Umbau des Unternehmens ab 2013 war eine kleine Revolution: „Natürlich waren unsere Führungskräfte am Anfang sehr zurückhaltend“, erinnert sich Projektmanager Marco Niebling, „denn die neue Struktur kostete sie schließlich ihre Führungsaufgabe.“ Am Gehalt habe sich nichts geändert, aber an der Rolle im Unternehmen, die auch die alten Führungskräfte mittlerweile als Gewinn ansehen: Sie sind nun erfahrene Experten im Team.

Thomas Sattelberger spricht gerne von „Unternehmensbürgern“, die souverän über die eigene Arbeitsorganisation entscheiden möchten: „Mitzureden in der Frage, wer mich führt. Am materiellen Ergebnis beteiligt zu werden. Also Betroffene zu Beteiligten zu machen statt zu Opfern von Entscheidern“, wirbt Sattelberger. Enge Führung und Hierarchie hält er für innovationsfeindlich.

So sieht es auch Jens-Uwe Meyer, Autor des Buchs Das Edison-Prinzip. Mehr Mut zu weniger Uniformität und Stromlinienförmigkeit könne sich vor allem „in Forschung und Entwicklung, Marketing und Vertrieb bezahlt machen“, sagt Meyer. Das Management gerade deutscher Unternehmen fokussiere sich zu stark auf Effizienzfragen. „Beim Optimieren von Prozessen ist das goldrichtig, bei kreativen Prozessen nur bedingt.“

Wer sich im Job mehr Freiheit wünscht und weniger Chefs, der findet also auch in Deutschland zunehmend Arbeitgeber, die ähnlich ticken. Ob wirklich jeder Arbeitnehmer Freude an so viel mehr Verantwortung hat, steht auf einem anderen Blatt. (Jan Dermietzel)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.