Kultur

Raum und Gesellschaft sind schier erdrückend für Tove Ditlevsen (Pia Händler). (Foto: Birgit Hupfeld)

22.03.2024

Das Ich im Belagerungszustand

Eine „Kopenhagen-Trilogie“ von Tove Ditlevsen in München als verdichteter Psychothriller

Es ist ziemlich gewagt, drei Romane zu einem rund zweistündigen Theaterabend zu straffen. Bei Tove Ditlevsen kommt eine vielschichtige Reduktion und Fragmentierung der Sprache hinzu, die zugleich das Wesen der Erinnerung an sich widerspiegeln. Das große Hauptwerk im Schaffen der dänischen Autorin, am Ende des Ersten Weltkriegs geboren und 1976 an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben, ist Erinnerungen. Hinter dieser Trilogie stecken die Romane Kindheit, Jugend und Sucht (oder Abhängigkeit). In München wurde nun eine Kopenhagen-Trilogie daraus, der Titel verweist auf die Stadt, in der Ditlevsen gelebt hatte.

Was Elsa-Sophie Jach für das Residenztheater im Münchner Marstall geschaffen hat, ist eine kleine Sensation. Mit wenigen Mitteln erwächst ein überaus intensiver Theaterabend. Allein die Bühne von Marlene Lockemann ist ein großer Wurf. Sie besteht aus Wänden, die sich unaufhörlich bewegen und jeweils andere Räume erschaffen. Das greift einerseits die Reduktion der Sprache von Ditlevsen auf, um andererseits das gefangene Ich zu verdeutlichen. Es sind starke Bühnenbilder, die sich tief einbrennen – gefüllt von durchwegs einnehmenden Schauspielleistungen.

Dichtes Kammerspiel

Es ist ein Psychothriller, der sich verdichtet: atmosphärisch unterstützt von der Musik Samuel Woottons. Die Hauptrolle der Tove Ditlevsen ist wie der skizzierte Lebensweg dreigeteilt. Während Naffie Janha die Schülerin verkörpert, brillieren Pia Händler als Jugendliche und Cathrin Störmer als Erwachsene. Sie übernehmen gleichzeitig weitere Rollen, ergänzt von Thomas Reisinger und Max Rothbart: Es sind Menschen, die in das Leben der Schriftstellerin eindringen und es bestimmen. Dieses Schauspielquintett gestaltet ein dichtes Kammerspiel, das ein erschütternd ehrliches Psychogramm zeigt.

Tove Ditlevsen wächst im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro auf. Zu ihrer Familie findet sie keinerlei Zugang, wobei offenbar vor allem die schwierige Beziehung zur Mutter ihr Leben nachhaltig beeinflussen wird. Sie ist von Furcht und Unsicherheit geprägt: eine mütterliche Herzenskälte, von Cathrin Störmer packend dargestellt. Der Vater (Thomas Reisinger) überträgt seine eigene Frustration auf die Familie und überdeckt seine Schwäche mit teils herrischer Abwertung.

Niemand in dieser menschlichen Ödnis hat Verständnis für die junge Dichterin, und sie selber kann ebenfalls nicht den familiären Teufelskreis durchbrechen oder auflockern. Alle sind Gefangene in diesem Raum, der unaufhörlich einengt oder sich plötzlich weitet. Der Bruder (Max Rothbart) begreift zwar im Ansatz das große Talent seiner Schwester, ist jedoch selber zu hilfsbedürftig, um mit ihr eine Art Überlebensteam zu bilden.

Dieser familiäre Abgrund wird fortan das Liebes- und Eheleben von Tove Ditlevsen prägen. Hier kommt der letzte Teil der Trilogie ins Spiel. Im dänischen Original lautet der Titel Gift, was übersetzt „Sucht“ oder „verheiratet“ bedeutet. Die neuere Übersetzung des Titels mit Abhängigkeit fängt dieses Wortspiel besser ein.

In Ditlevsens Trilogie fließen auch gesellschaftliche und weltpolitische Zeitgeschichte ein, die jedoch nur den Hintergrund bilden. Der Einmarsch der deutschen Nazis in Dänemark wird genauso angerissen wie die Tatsache, dass Männer die Gesellschaft dominierten.

Mit ihren Erinnerungen erschafft Tove Ditlevsen auch Freiräume für das autonome Ich – doch diese Freiräume sind stets unter Beobachtung oder gar Beschuss: Es herrscht ein unaufhörlicher Belagerungszustand. Auch das fängt dieser Abend ein, schonungslos direkt. (Marco Frei)

 

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