Kultur

Nicolai Karnolsky überzeugt als Zar. (Foto: Ludwig Olah)

07.10.2016

Der Zar schmeißt hin

Peter Konwitschny interpretiert Mussorgskys "Boris Godunow" neu

Nach altrussischem Zarendrama sieht das nicht aus, was da vor dem schwarzen Vorhang rumsteht: Regenschirm und Kinderbadewanne. Aber in einer Inszenierung von Peter Konwitschny hat man bei Mussorgskys Boris Godunow sowieso keinen roten Kreml und goldglänzende Ikonen erwartet. Stattdessen wird Kasperltheater gespielt in dieser Nürnberger Neuinszenierung – ohne den zuckrigen, nachkomponierten „Polen-Akt“, ohne Pause und mit einer Inhaltsangabe für Anfänger und für Fortgeschrittene.

„Das Volk wird seit Jahrhunderten verarscht“

In Nürnberg heißt es in Konwitschnys Lesart ohne Großbuchstaben: „ein neuer zar ist fällig, aber er ziert sich… also beten alle… endlich lässt er sich herab. es gibt schokolade“ – und von der Kasperlbühne, die Timo Dentler und Okarina Peter im Opernhaus aufgebaut haben, lässt der Apparatschik Gold aufs Volk regnen. Dem geht es nicht direkt schlecht, man hat genug Wodka und Wollmützen, aber auch die ewige russische Sehnsucht nach dem „Väterchen“ – ob Godunow, Stalin oder Putin. „Das Volk wird seit Jahrhunderten verarscht“, resümiert Konwitschny im Gespräch mit der Bayerischen Staatszeitung. Wie, das zeigt er in sieben sehr abwechslungsreichen Bildern, in die er bei seiner ersten Inszenierung des Boris Godunow eine Überfülle von ( fast immer) plausiblen Ideen investiert hat: „Alles ist verlogen in diesem Stück, es ist durchwegs sarkastisch.“ Und so kommen denn die offiziellen Verlautbarungen vom Kasperl und dem Krokodil (die Sänger müssen auch Puppenspieler sein): Medienmacht auf dem Markt und mit der Pelzmütze, Propagandanebel, und die Kirchenglocken läuten ihr „Ehre Gott!“ dazu. Das funktioniert überzeugend in seiner aktuellen Logik.

Urfassung geschärft

Auch weil der Dirigent des Abends, Generalmusikdirektor Marcus Bosch, mit der Staatsphilharmonie diesen sarkastischen Ton, diese Doppelbödigkeit exakt aufnimmt und Modest Mussorgskys Musik der Urfassung geschärft hat, wo nötig mächtig dröhnende Russland-Couleur dazugibt und jedes Bild spannungsvoll eröffnet: eine beeindruckende Orchesterleistung – genauso wie die des exzellenten Staatsopernchors. Wenn das Volk dann endlich seinen neuen Kasperlzar hat, singt die Masse „Heil!“, gibt’s Feuerwerk und bricht der ganze Plunder zusammen. In dessen Trümmern haust dann die Klostergemeinde des Mönchs Pimen, der seinen Adepten blutige Kreuze in den Rücken ritzt und die alte Geschichte des falschen Dimitri erzählt: ein grausames, aggressives Sektenritual (Alexey Birkus macht das hervorragend), aus dem sich der junge Grigori (Tillmann Unger mit beeindruckender Tenorstatur) befreit und zum Sturm auf Moskau ansetzt.

Goldene Zeiten im Kreml

Dort herrschen inzwischen unter Boris goldene Zeiten: im Kreml, beim Tüten schleppenden Volk und vor einer riesigen Einkaufswagen-Hüpfburg. Aber der intrigante Strippenzieher Schuiski des devot buckelnden David Yim lässt den Mönch Pimen einfliegen: Der führt seinen Comicstrip von den Wundertaten des toten Zarensohns Dimitri per Beamer vor, Boris wird abserviert. Konwitschny: „Ich mache nicht die sentimentale Linie mit, dass Boris immer verrückter wird und dann stirbt.“ Kein Büßerhemd, keine Klosterhaft, sondern die Diener bringen ein legeres Sommer-Outfit mit Strohhut und Hawaii-Hemd. Die Zarenkrone am Nagel und Boris im Orchestergraben: „Macht euren Dreck alleene.“ Bis auf ein paar entbehrliche Modernismen aus der Medienwelt passt das alles herrlich zusammen, ist bunt und düster, nachdenklich und unterhaltsam und hat in Nicolai Karnolsky einen kernig-vitalen Hauptdarsteller ohne das gewohnte abgrundtiefe Bass-Geschmurgel. Langer Beifall für einen neuen Mussorgsky. (Uwe Mitsching)

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