Landtag

Gut gemeint, schlecht gemacht: Selbst Hilfe für Landwirte bei Biberschäden werden von der EU als unrechtmäßige Begünstigung gewertet. (Foto: dpa)

27.10.2017

"Die EU muss ihr Helfersyndrom überwinden"

Wie soll das Europa der Zukunft aussehen, um das Vertrauen in die Gemeinschaft wieder zu stärken?

Ausgerechnet zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge steckt die Europäische Union (EU) in der Krise. Im März hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker daher ein Weißbuch zur Zukunft Europas vorgestellt. Darin werden verschiedene Wege skizziert, die das Europa der 27 bis zum Jahr 2025 einschlagen könnte (siehe Infokasten). Welcher der beste ist, darüber diskutierte der Europaausschuss mit fünf renommierten Experten im Landtag.

James W. Davis, Direktor des Instituts für Politische Wissenschaften der Universität St. Gallen, kritisierte alle Szenarien des Weißbuchs. „Die Strategien basieren auf zu optimistischen Grundannahmen“, erklärte er. So gebe es zum Beispiel keine Antworten auf den zunehmenden Rechtspopulismus, Separationsbewegungen wie in Spanien oder Krisenszenarien wie eine massive Verstärkung der Flüchtlingskrise. Davis plädierte dafür, die Politikbereiche zu stärken, in denen es eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit gibt: Verteidigung, Sicherheit und Klimaschutz. Außerdem müsste sich die EU mehr auf Gesamteuropa konzentrieren und kleinere Eingriffe den nachrangigen Institutionen überlassen.

Letzteres forderte auch Angelika Poth-Mögele, Direktorin beim Rat der Gemeinden und Regionen Europas in Brüssel. „Wichtig ist, sich mit der demokratischen Legitimierung und der Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips sowie des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu beschäftigen“, betonte sie. Viele globale Probleme wie der Klimawandel, die Energiewende, TTIP oder die Migration hätten direkte Auswirkungen auf die Kommunen. Alle Herausforderungen müssten daher zuerst auf kommunaler Ebene – insbesondere zusammen mit der jüngeren Generation – diskutiert werden.

"Über Schulden entscheiden nationale Parlamente, daher muss auch national dafür gehaftet werden“

Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts an der Universität München, plädierte dafür, sich auf den Binnenmarkt zu fokussieren, aber auch die Zusammenarbeit in anderen Bereich zu forcieren. „Durch gemeinsames Handeln gibt es ein erhebliches Wohlstandssteigerungspotenzial“, erläuterte er. Der EU attestierte Fuest einen „Helfer-Komplex“: „Sie möchte jedes Problem lösen, obwohl sie es nicht kann – das führt zu Enttäuschung.“ Außerdem müsse das Thema Währungsunion angegangen werden: „Über Schulden entscheiden nationale Parlamente“, kritisierte er. „Daher muss auch national dafür gehaftet werden.“

Die Vorsitzende der Arbeitnehmer im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss beim Deutschen Gewerkschaftsbund, Gabriele Bischoff, lehnte die Szenarien des Weißbuchs ebenfalls rundum ab. „Ein Weiter-Durchwursteln ist für uns keine Alternative“, sagte sie. Europa müsse sich endlich besser einigen – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial, forderte sie und nannte Mindestlöhne als Beispiel. Auf keinen Fall dürfe nur noch der Binnenmarkt im Zentrum stehen. „Das Versprechen der europäischen Verträge war nicht, einen Binnenmarkt zu schaffen, sondern die Lebenssituation der Menschen zu verbessern.“

Martin Huber (CSU) forderte die EU auf, Kompetenzen zurückzuverlagern und das Beihilferecht zu überarbeiten. „Schon die Hilfe für Landwirte bei Biberschäden wird als Beihilfe gewertet“, klagte er. Christine Kamm (Grüne) wünschte sich eine EU der Regionen und der Bürger, die sich mehr um soziale Gerechtigkeit und die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit kümmert.

Hans Jürgen Fahn (Freie Wähler) verlangte, die EU müsse die kommunale Selbstverwaltung achten und auch die Kommunen an der Gesetzgebung teilhaben lassen. Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD) kritisierte, dass der Ausschuss sich mit „kompliziertesten Detailfragen“ befasse, anstatt über Wohlstand, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle EU-Bürger zu diskutieren. „Damit werden wir die Zukunft Europas nicht sichern können.“ (David Lohmann)

INFO: Weißbuch zur Zukunft der EU
In dem 32 Seiten starken Papier vom März dieses Jahres beschreibt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fünf Zukunftsmodelle.

Das erste Szenario der EU-Kommission sieht ein „Weiter so“ vor. Das zweite Szenario konzentriert sich auf den Binnenmarkt, da die 27 Mitgliedstaaten im politischen Bereich kaum noch eine gemeinsame Haltung finden. Szenario drei lautet: „Wer mehr will, tut mehr.“ Mitgliedstaaten können sich also in bestimmten Bereichen zusammentun. Beim vierten Szenario gilt das Credo: „Weniger, aber effizienter.“ Die EU27 konzentriert sich darauf, nur noch in ausgewählten Bereichen rascher mehr Ergebnisse zu erzielen. Das fünfte Szenario sieht ein deutliches Plus an gemeinsamem Handeln, Kompetenzen und Ressourcen vor. Ein sechstes Szenario beschrieb Juncker in seiner Rede vor dem Europaparlament zur „Lage der Nation“, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: „Wer mehr will, tut mehr, sonst weniger, aber effizienter mit mehr gemeinsamem Handeln.“ Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat im September seine Vision für Europa vorgestellt. Konkret will er unter anderem einen gemeinsamen EU-Haushalt, eine EU-Asylbehörde und gewisse Sozialstandards, beispielsweise bei Leiharbeit und Werkverträgen. Aus Deutschland gibt es wegen der Koalitionsverhandlungen noch keine abgestimmte Position.

Schlussfolgerungen sollen beim Treffen des Europäischen Rats gezogen werden. Verabschiedet werden soll das Konzept vor der Wahl zum EU-Parlament im Juni 2019. (loh)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

BR Player
Bayerischer Landtag
Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.