Leben in Bayern

Die Schülerrichter Fabio Piciocchi (von links), Marlene Utz und Pelagija Zlatic lesen die Strafakte eines Jugendlichen. (Foto: Armin Weigel/dpa)

22.05.2018

"Der soll ruhig merken, was er für'n Scheiß gemacht hat"

Wenn Schüler in die Rolle des Richters schlüpfen, sind Paragrafen nicht mehr wichtig. Was zählt, sind ein Sinn für Gerechtigkeit und Kreativität. Damit kommen die jugendlichen Richter sogar weiter als ihre erwachsenen Vorbilder

Der Richter trägt Kapuzenpulli statt Robe, hat kein abgeschlossenes Jurastudium, dafür bald seinen Mittelschulabschluss. Wenn er über die Tat redet, spricht er von "so 'nem Scheiß, den der gemacht hat": Fabio Piciocchi, 17 Jahre alt, ist Schülerrichter in Passau. Natürlich kann er kein Urteil fällen. Sein Gerichtssaal ist auch nur ein kleiner Konferenzraum der Caritas. Aber er handelt im Auftrag der Staatsanwaltschaft. Und wenn er eine Strafe verhängt, ist das rechtsgültig. Der Täter muss dann nicht mehr vor Gericht erscheinen, er ist nicht mal vorbestraft.

"Teen Court" heißt das Projekt des Bayerischen Justizministeriums. In Passau tagt das Schülergericht seit einem halben Jahr - in Aschaffenburg, Ingolstadt, Ansbach, Memmingen, Augsburg, Landshut, Dillingen und Neu-Ulm schon seit ein paar Jahren. Allein 2016 wurden bayernweit 330 Fälle verhandelt. Mit großem Erfolg, 96 Prozent sind abgeschlossen. Auch die Rückfallquote der Täter ist gering, wie eine wissenschaftliche Studie am Beispiel von Aschaffenburg zeigt: Bei normalen Gerichtsverfahren werden 34 Prozent der Jugendlichen zum Wiederholungstäter. Stand der Täter vor dem Schülergericht, liegt die Rückfallquote nur bei 22 Prozent.

Das Schülergericht ist ein Verfahren auf Augenhöhe. Jugendliche urteilen über Jugendliche. Sie haben ähnliche Sorgen und können die Hintergründe der Tat möglicherweise besser nachvollziehen. Außerdem zählt die Meinung der Gleichaltrigen, ein Straftäter lässt sich so vielleicht zum Umdenken bewegen. "Wir sprechen ganz normal mit den Tätern. Komplizierte Paragrafen lassen wir weg, die kennen wir ja selbst nicht", sagt Fabio Piciocchi.

Er kann sich noch gut an seinen ersten Fall erinnern: Ein Jugendlicher hatte in einem alten Sägewerk randaliert. Klassische Sachbeschädigung. "Im Vorgespräch war auch seine Mutter mit dabei, das war schon ein bisschen seltsam", erzählt der 17-Jährige. Doch im Prozess keine Spur mehr von Aufregung. Der Angeklagte hat die Tat sofort gestanden, das ist eine Voraussetzung am Schülergericht. Im Gespräch haben sie sich auf eine Strafe geeinigt: Der Täter soll sich beim Bürgermeister entschuldigen und in den Ferien zwölf Sozialstunden beim Bauamt arbeiten. "Ferien - das ist Freizeit. Sozialstunden sind dann doppelt blöd", findet Fabio Piciocchi. "Der soll ruhig merken, was er für'n Scheiß gemacht hat."

"Die Jugendlichen sind beim Strafmaß kreativer als wir"

Die Akte landet dann wieder bei der Staatsanwaltschaft. Ist die mit der Strafe einverstanden, hat sich der Fall erledigt. "Die Jugendlichen sind beim Strafmaß natürlich viel kreativer als wir", sagt Walter Feiler, Oberstaatsanwalt in Passau. "Wir passen nur auf, dass nicht über's Ziel hinausgeschossen wird." In Passau war das noch nie der Fall. Nur ein einziges Mal waren die Schülerrichter überfordert: Zwei Mädchen wollten nicht mit der Sprache rausrücken. "Wir wussten am Ende nicht, was Wahrheit und was Lüge ist", sagt Schülerrichterin Pelagija Zlatic. "Da haben wir gemerkt, dass wir mit unserem Latein am Ende sind und haben den Fall an die Staatsanwaltschaft zurückgegeben."

Eine Ausnahme. Denn vor dem Schülergericht landen nur Fälle, die Polizei und Staatsanwaltschaft gezielt ausgewählt haben. Meistens typische Formen von Jugendkriminalität wie Sachbeschädigung durch Graffiti, kleine Ladendiebstähle oder Fahren ohne Führerschein. "Das sind klassische Schreibtischfälle, die bei den Richtern lange liegen bleiben. Vor dem Schülergericht läuft der Prozess viel schneller", sagt Erika Paul, Fachbereichsleiterin Jugend- und Familienhilfe der Caritas Passau. Die Caritas betreut im Rahmen des Beratungsangebots "Brücke Passau" das Schülergericht vor Ort.

Die Teilnahme ist freiwillig - für jugendliche Straftäter ebenso wie für Schülerrichter. "Das Projekt Teen-Court ist für beide Seiten ein Gewinn", meint Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU). Den Tätern bleibe ein Strafverfahren vor Gericht erspart, die Schülerrichter erhielten eine Ausbildung in Gesprächsführung. Zwei Tage dauert die Schulung. Die Schülerrichter schlüpfen dabei spielerisch in die Rolle des Täters, werden von der Staatsanwaltschaft über die Rechtsgrundlage aufgeklärt und besuchen eine Gerichtsverhandlung. "Am Ende mussten wir bei der Staatsanwaltschaft einen Zettel unterschreiben, dass man nichts sagen darf", sagt Schülerrichterin Marlene Utz. In Passau haben bisher 18 Schülerrichter die Ausbildung durchlaufen, im nächsten Schuljahr sollen es mehr werden.
Sitzt Fabio Piciocchi dann auch wieder auf der Richterbank? Er nickt fest entschlossen mit dem Kopf. "Ich hatte vor kurzem ein Vorstellungsgespräch. Der Chef wollte genau wissen, was ich als Schülerrichter mache", erzählt der 17-Jährige. "Er war ziemlich interessiert. Das Projekt hat sich also auf jeden Fall gelohnt." In Gedanken ist er schon bei seinem nächsten Prozess. Diesmal geht es um einen Jugendlichen, der sich gegen eine Polizeikontrolle gewehrt hat.
(Mirjam Uhrich)

Kommentare (1)

  1. justizfreund am 23.05.2018
    >Wenn Schüler in die Rolle des Richters schlüpfen, sind Paragrafen nicht mehr wichtig. Was zählt, sind ein Sinn für Gerechtigkeit und Kreativität. Damit kommen die jugendlichen Richter sogar weiter als ihre erwachsenen Vorbilder

    In der richtigen Justiz sind Paragrafen und das Grundgesetz dann auch nicht mehr wichtig. Es ist kein Wunder, dass die Jugendlichen damit weiterkommen.

    In der Justiz ist Hauptschulabschluss völlig ausreichend um als Staatsanwalt oder Richter in der Praxis zu arbeiten und der ist schon mal vorhanden:

    Falscher Staatsanwalt als Fälscher vor Gericht, Hamburger Abendblatt, 26.04.2006
    Schwindel Jurist ohne juristische Ausbildung und ohne juristische Kenntnisse bei der Staatsanwaltschaft mit steiler Karriere
    Das Examenszeugnis kam aus Mecklenburg-Vorpommern und war gefälscht, doch niemand schöpfte Verdacht. Also konnte der Mann sein Referendariat absolvieren und legte so den Grundstein zu seiner „Juristen-Karriere“. Die Ausbildungsstationen bei der Staatsanwaltschaft Itzehoe und beim Amtsgericht Pinneberg, wo er auch vor Gericht für die Staatsanwaltschaft auftrat, passierte er problemlos.
    Er trug die Robe des Staatsanwalts im Gerichtssaal, stellte Strafanträge, schrieb Anklagen – ohne je ein juristisches Seminar besucht zu haben.

    In der bayerischen Justiz liegt die fachliche Qualität noch weit darunter. Dafür braucht man andere Qualitäten:
    „Ich habe unzählige Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte erleben müssen, die man schlicht “kriminell” nennen kann. …Wenn ich an meinen Beruf zurückdenke (ich bin im Ruhestand), dann überkommt mich ein tiefer Ekel vor „meinesgleichen“ „.
    Frank Fasel ehemaliger Richter am LG Stuttgart, Süddeutsche Zeitung, 9. April 2008

    Bei den Differenzen sollte einem einiges klar werden.
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