Politik

Die Ressentiments der Deutschen gegenüber Migranten wurden durch Sarrazins Thesen noch geschürt. Die Politik reagierte teils hilflos. (Foto ddp)

10.09.2010

Auf der Suche nach Antworten

Während die Opposition in Bayern Sarrazins Integrations-Provokationen einhellig verabscheut, zeigt sich die CSU gespalten

Wie bekämpft man den Stammtisch? Eine Frage, die dieser Tage vor allem drei Parteien beschäftigen dürfte: die Schwestern CDU/CSU sowie die Linke. Eine Emnid-Umfrage stellte kürzlich fest, dass 17 Prozent der Unionswähler und sagenhafte 29 Prozent der Linke-Wähler für eine Partei votieren würden, die angeführt würde von: Thilo Sarrazin. Der umstrittene Bundesbanker hat mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab für einen deutschlandweiten Aufschrei gesorgt. Das Buch – laut FAZ ein „antimuslimisches Dossier“ – schaffte es aus dem Stand auf die Bestsellerlisten.
Ganz offensichtlich traf der Skandalbanker mit seiner Behauptung, Migranten, vor allem Muslime, zeigten zu wenig Interesse an Integration, einen Nerv. Doch viel Substanzielles zur Lösung der Probleme war bislang nicht zu hören. Das jetzt vorgelegte Integrationsprogramm der Bundesregierung enthält kaum Spektakuläres. Einen der Vorschläge – mehr Migranten als Lehrer einzustellen – hatte bereits vor Wochen Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) präsentiert.
Im Freistaat ist es vor allem die CSU, die sich schwertut, zum Thema Sarrazin eine klare Linie zu präsentieren: Man bangt um die konservativen Wählerkreise. Weil man aber auch die aufgeklärteren Schichten nicht verschrecken will, entschied man sich für ein entschiedenes Sowohl-als-auch: „Herr Sarrazin“, formuliert etwa CSU-Fraktionschef Georg Schmid, „hat sicher das eine oder andere Richtige angesprochen. Leider hat er aber auch mit einigen wirren und inakzeptablen Aussagen die sehr dringend notwendige Debatte nicht leichter gemacht.“ Auch der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Hans-Peter Uhl findet Sarrazins Thesen teils „überspitzt“, zugleich rüffelt er jedoch die massive Kritik an dem Noch-SPD-Mann als „Hysterie“. Und Ministerpräsident Horst Seehofer vermied es sicherheitshalber gleich ganz, sich zum Thema zu äußern.
Der Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber wiederum führte die Riege der Scharfmacher an: Es müsse diesmal anders laufen als in den 80er Jahren, als die Debatte um ein neues Asylrecht zum Aufstieg der rechtsextremen Republikaner geführt habe. „Soweit darf es nicht wieder kommen“, warnte Stoiber. Innenminister Joachim Herrmann assistierte prompt: Bei der Vorstellung eines Zahlenwerks zur Migration in Bayern erklärte er: „Eine weitere massenhafte Zuwanderung würde die Integrationsfähigkeit unseres Landes überfordern.“
Dabei kann von „weiterer massenhafter Zuwanderung“ keine Rede sein: Laut der Berechnung des Statistischen Landesamtes wird der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund im Freistaat bis zum Jahr 2020 von 19 auf 23 Prozent anwachsen.

Vor allem die CSU-Sozialpolitiker empören sich über Sarrazin

Es sind vor allem die Sozialpolitiker der CSU, die sich von Sarrazins kruden Thesen am entschiedensten distanzieren. Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer kritisiert: „Ich glaube nicht, dass es Thilo Sarrazin um die Sache geht.“ Und der Vizechef der Berliner Landesgruppe, Max Straubinger, bezeichnet einige Behauptungen des Bankers schlicht als „Schwachsinn“.
Vereint im Abscheu präsentiert sich die bayerische Opposition. Inklusive der Linken, unter deren Anhängern das Fan-Potenzial für Sarrazin besonders hoch ist. „Wir müssen den Stammtischparolen eine sachliche Debatte entgegensetzen“, fordert der kommissarische Landessprecher Xaver Merk. SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher tat dies, indem er Münchner Muslime zum Fastenbrechen einlud und sich für Parteifreund Sarrazin entschuldigte. Die Grünen sehen sich ohnehin bestätigt in ihren immer schon propagierten Forderungen nach überlegter Zuwanderung. Und Bayerns FDP stellt ein Integrationspapier vor, in dem gleich eingangs der für die CSU schmerzvolle Satz prangt: „Deutschland ist ein Einwanderungsland.“ Ein Satz übrigens, den auch Hubert Aiwanger, Chef der Landtagsfraktion der Freien Wähler, zitiert.
Unbestritten ist in allen politischen Lagern, dass Integration möglichst früh beginnen sollte – am besten schon im Kindergarten. Für eine Kindergartenpflicht können sich inzwischen sogar einzelne CSU-Leute erwärmen: So nennt CSU-Innenexperte Christian Meißner ein verpflichtendes Kindergartenjahr für Migranten „diskussionswürdig“.
Haderthauer lehnt das ab. Grund: Lediglich 200 Kinder mit Migrationshintergrund besuchten in Bayern keinen Kindergarten. Um sicherzustellen, dass alle Grundschüler Deutsch können, sind laut Sozialministerium Sprachtests vor der Einschulung Pflicht. Wer nicht gut genug ist, darf nicht in die erste Klasse und muss ein Jahr lang Deutsch lernen.


Haderthauer fordert Deutsch-Pflicht für Ehepartner


Defizite gibt es im Freistaat jedoch nach wie vor bei der Betreuung von Kleinstkindern. So besuchten 2009 nur 9,4 Prozent der unter Dreijährigen mit Migrationshintergrund in Bayern eine Kinderkrippe oder Tagesmutter. Die Betreuungsquote bei ihren Altersgenossen ohne fremde Wurzeln war mit knapp 18,6 Prozent gut doppelt so hoch. Damit rangiert Bayern laut einem aktuellen Bericht der Bundesregierung knapp unter dem Bundesdurchschnitt.
Problematisch bleibt auch, dass jeder fünfte Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule ohne Abschluss verlässt – bei den Deutschen ist es jeder zehnte. Der Bildungsforscher Manfred Prenzel, der die PISA-Studie 2006 federführend verantwortet, gibt zu bedenken, dass Bayern zu den Ländern zählt, bei denen die Lern-Unterschiede zwischen deutschen und ausländischen Schülern überdurchschnittlich hoch seien: „Vergleicht man die Abstände zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, dann sind diese besonders groß in den Stadtstaaten, aber auch relativ hoch in Bayern, Rheinland-Pfalz und Hessen.“
Die Konsequenz: Der Anteil der jungen Migranten ohne Berufsausbildung liegt mittlerweile bei 40 Prozent. Auch als Folge dieser massiven Bildungsdefizite ist die Arbeitslosenquote der Menschen mit Migrationshintergrund im Freistaat mit 10,2 Prozent laut Arbeitsagentur etwa doppelt so hoch wie die der gebürtigen Deutschen. Im bundesweiten Vergleich steht Bayern hier aber noch gut da: So sind in Berlin 29 Prozent aller Migranten ohne Job.
Bildung, sagt auch Mitra Sharifi-Neystanak, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY), „hängt vor allem vom sozialen Status der Eltern ab – auch bei den Deutschen“. Ihre Forderung: mehr Ganztagsschulen und eine stärkere Sprachförderung.
Die Sprachkompetenz der Migranten verbessern – das wollen alle politischen Parteien in Bayern. Sozialministerin Haderthauer möchte dafür die Eingliederungsvereinbarung des Bundes ändern: Alle, die Arbeitslosengeld I und II beziehen, sollten verpflichtet werden, Deutschkurse zu belegen – auch deren Angehörige. „Im Moment zahlen wir zwar für die Ehefrau, verlangen aber nicht, dass sie Deutsch lernt“, sagt Haderthauer. Deren Amtsvorgängerin Christa Stewens bestätigt: „Ich habe häufig erlebt, dass muslimische Frauen sich beklagten, ihre Männer erlaubten ihnen keine Deutschkurse.“
Der SPD-Integrationspolitikerin Isabell Zacharias geht staatlicher Zwang allerdings zu weit: „Das funktioniert auch anders.“ So tarnten einige Schulen Sprachkurse für ausländische Frauen ganz einfach als Bastel- oder Kochkurse – wogegen dann auch die Patriarchen daheim nichts hätten.
(Tobias Lill, Waltraud Taschner)

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