Politik

Ob Lebensmittel gefährliche Keime enthalten, sieht man ihnen nicht immer an. (Foto: dpa)

17.06.2016

Machtlose Verbraucher

Lebensmittelskandale in Bayern: Immer wieder erfahren Konsumenten zu spät oder gar nicht von möglichen Gefährdungen

Schlampereien in der Lebensmittelbranche können lebensgefährliche Folgen haben. Umso wichtiger ist neben wirksamer Kontrolle die rechtzeitige Information der Öffentlichkeit. Daran hapert es – nicht nur in Bayern. Als einziges Bundesland plant Nordrhein-Westfalen jetzt strenge Transparenzregeln.
Im jüngsten Fall ging plötzlich alles schnell: Das Landratsamt Bad Tölz ordnete die Werkschließung der oberbayerischen Großmetzgerei Sieber und den Rückruf aller Produkte an. Listerien, gefährlich vor allem für Kleinkinder und Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, waren in Produkten der Firma gefunden worden. Das Robert-Koch-Institut hielt für sehr wahrscheinlich, dass listerienverseuchte Sieber-Produkte zu 76 Erkrankungen mit acht Toten geführt hatten. Der Verbraucherschutz sei vorrangig vor wirtschaftlichen Interessen der Firma, erklärte das Landratsamt. Aber muss man das extra betonen? Der Freistaat, der sich so gerne aller möglichen Spitzenpositionen rühmt, zeigt im Bereich des Verbraucherschutzes tatsächlich verhältnismäßig wenig Ehrgeiz. Die seit Jahren bestehenden und von Skandal zu Skandal wiederholten Forderungen nach besserer Kontrolle und Information der Bürger liefen regelmäßig ins Leere. Das könnte sich endlich ändern. Ein Gutachten des Bayerischen Obersten Rechnungshofes (ORH) listet eine ganze Palette an Problemen auf: zu wenig Kontrollen, zu wenig Personal, uneinheitliche Organisationsstrukturen und ein kaum mehr zu überblickender Wust an gesetzlichen Vorgaben. Kernforderungen des ORH an das Ministerium: die Lebensmittelüberwachung soll konzentriert werden, von den 71 Landratsämtern abgezogen und an zwei Bezirksregierungen angesiedelt werden. Und für die Behörden soll es mehr Rechtsklarheit geben – indem man die zahlreichen, auch für Fachleute nicht mehr zu überblickenden Einzelvorschriften in eine übersichtliche Form bringt.

Mehr Rechtssicherheit: Das wäre vor allem wichtig beim Thema Transparenz. Denn was nützen die strengsten Kontrollen, wenn die Verbraucher das Ergebnis nicht oder viel zu spät erfahren? Zurzeit gilt: Die Öffentlichkeit wird nur dann sofort informiert, wenn gesundheitsschädliche Lebensmittel den Verbraucher bereits erreicht haben, teilt das bayerische Verbraucherschutzministerium der Staatszeitung mit. In allen anderen Fällen, also wenn in einem Betrieb Hygienemängel bestehen, klären die Behörden das erst mal mit dem betroffenen Unternehmen. Theoretisch sollten laut Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch des Bundes zwar alle Verstöße umgehend publik gemacht werden. Doch dagegen haben verschiedene Unternehmen erfolgreich geklagt. Sie berufen sich unter anderem auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil strenge Transparenzregeln die Existenz des betroffenen Unternehmens gefährden könnten. Und auf willkürliche Regelungen im Gesetz, etwa die, wonach erst ab einem zu erwartenden Bußgeld von 350 Euro eine Veröffentlichung der jeweiligen Schlamperei erfolgen soll. Derzeit befasst sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Problem.

In anderen Bereichen rühmt sich der Freistaat gern seiner Spitzenposition

Auch die Opposition im Landtag hält die Information der Öffentlichkeit für verbesserungswürdig. „Das muss wesentlich schneller gehen“, sagt Benno Zierer (FW). Die Grüne Rosi Steinberger fordert klare Regeln, ab wann öffentlich gewarnt werden muss. SPD-Mann Florian von Brunn meint: lieber zu früh als zu spät – wie im Fall von Bayern-Ei, wo gar nicht informiert wurde. Mit der Folge, dass Menschen an Salmonellenvergiftung starben. Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch macht sich seit Langem für ein System nach dem Vorbild Dänemarks stark: Dort müssen sämtliche Verstöße, dieLebensmittelkontrolleure finden, sofort veröffentlicht werden – direkt an der Ladentür in Form eines Smiley-Systems. So etwas, sagt Foodwatch-Sprecher Andreas Winkler, sei auch hierzulande möglich. Die Bundesländer könnten ein solches Gesetz erlassen. Als einziges Bundesland hat bisher Nordrhein-Westfalen vor zwei Monaten eine solche Regelung auf den Weg gebracht: Eine am System Dänemark orientierte, jedoch weniger strenge „Hygiene-Ampel“ soll dort ab dem Jahr 2019 alle Lebensmittelunternehmen verpflichten, die Ergebnisse amtlicher Hygienekontrollen zu veröffentlichen. Bayern hält sich hier bislang vornehm zurück.

Allerdings versichert das bayerische Verbraucherschutzministerium, derzeit an einer effektiveren Lebensmittelkontrolle zu arbeiten: „Die Struktur der Lebensmittelüberwachung soll geändert werden.“ Derzeit werte man die Ergebnisse des ORH-Gutachtens aus. Ergebnisse sollten „schnell“ vorliegen, heißt es. Einen konkreten Zeitpunkt nennt das Ministerium von Ulrike Scharf nicht.

Die Opposition im Landtag hält eine Umstrukturierung des bayerischen Kontrollsystems für längst überfällig. Mit unterschiedlichen Nuancen. Während SPD-Verbraucherschützer von Brunn Lebensmittelkontrolleure komplett von den Landratsämtern abziehen will, wollen Freie Wähler und Grüne lediglich die Kontrolle der Großbetriebe von den Landratsämtern abkoppeln. Es sei sinnvoll, wenn kleinere Betriebe vom Landratsamt untersucht werden, glaubt FW-Mann Zierer: „Der Kontrolleur vor Ort kennt seine schwarzen Schafe.“ Dass Großbetriebe nicht mehr wie bisher von Landratsämtern kontrolliert werden, fordern FW und Grüne deshalb, weil es dann, wie Rosi Steinberger formuliert, „keinen Interessenskonflikt mehr gibt zwischen nötiger Kontrolle und wirtschaftlichen Folgen, die auch auf die Gewerbesteuer und die Arbeitsplätze Auswirkungen haben könnten“.

Ein reiches Betätigungsfeld für Ministerin Ulrike Scharf

Ein weiteres Problem: Es gibt zu wenig Kontrolleure. Heinrich Förtsch, Vize-Vorsitzender des Verbands der Lebensmittelkontrolleure in Bayern, klagt: „Es fehlt an Personal.“ Grund: Mit dem enormen Verwaltungsaufwand samt Dokumentationspflichten habe sich der Innendienst stark erhöht. „Derzeit ist ein Anteil von etwa 50 Prozent dafür zu veranschlagen“, sagt Förtsch. Die Verbraucherzentrale Bayern schließlich kritisiert, dass die offzielle Liste schwarzer Schafe auf dem Portal lebensmittelwarnung.de wegen zahlreicher Abkürzungen und fehlender Abbildungen für Verbraucher oft unverständlich sei: Denn sie könnten so nur schwer herausfinden, ob sie betroffene Produkte gekauft haben.

Ein reiches Betätigungsfeld also für Ulrike Scharf. Sie kann nun mit den angekündigten Reformen unter Beweis stellen, wie ernst sie ihr nach dem Bayern-Ei-Skandal ramponiertes Image als oberste Verbraucherschützerin im Freistaat nimmt.
(Angelika Kahl, Waltraud Taschner)

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