Politik

Wenn die Rente nicht zum Leben reicht: Immer mehr Menschen sind künftig auf eine Grundsicherung im Alter angewiesen. (Foto: dpa)

29.07.2016

"Unser System funktioniert nur noch bis 2030"

Der Wirtschaftswissenschaftler Martin Werding über die Dringlichkeit einer Rentenreform, wie diese aussehen müsste und was er Beitragszahlern rät

Am besten gewöhnt man sich bereits vor dem Renteneintritt an einen Lebensstil, der sich auch noch im Alter durchhalten lässt – das ist der wenig ermutigende Rat des Sozialwissenschaftlers Martin Werding. Was es jetzt braucht? Eine Reform, mit der die Regelaltersgrenze erhöht wird und ein System, das soziale Härten ausgleicht. Werding: „Klingt einfach, ist es aber nicht.“ BSZ: Herr Werding, wir müssen immer mehr in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und bekommen immer weniger heraus. Lässt sich denn da gar nichts machen?
Martin Werding: Nein, das ist ein Tatbestand, mit dem wir umgehen müssen. Und es ist durchaus Besorgnis angebracht. Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein Umlagesystem, das von der Bevölkerungsentwicklung abhängt. Wir müssen auf absehbare Zeit mit immer mehr Rentenempfängern rechnen und mit immer weniger Beitragszahlern. Das hat leider mathematische Konsequenzen.

BSZ: Die Politik will nun auch die Solo-Selbständigen verpflichten, fürs Alter vorzusorgen. Die Gewerkschaften möchten ihnen sogar vorschreiben, dabei in die gesetzliche Rentenkasse einzuzahlen. Ist das nur ein weiterer Trick, um die leeren Rentenkassen zu füllen?
Werding: Es geht in erster Linie darum, Solo-Selbständige vor Altersarmut zu schützen. Bei vielen klafft eine Vorsorgelücke. Die Verantwortung des Staates reicht sicher nicht so weit, dass er Solo-Selbständige zu einer umfassenden Altersvorsorge zwingen müsste. Aber eine Untergrenze kann und sollte er setzen.

BSZ: Gibt es angesichts des demografischen Wandels die eine sinnvolle volkswirtschaftliche Lösung, die aber aus politischen Gründen nicht umgesetzt werden kann?
Werding: Nein. Auf der einen Seite kann man die Beiträge der Berufstätigen nicht unendlich erhöhen, hier liegt die gesetzliche Grenze bei 22 Prozent. Auf der anderen Seite darf das Versorgungsniveau für die Rentenempfänger nicht unter einen bestimmten Punkt fallen. Weniger als 43 Prozent des Bruttolohns abzüglich Sozialbeiträge sollen es nach geltendem Recht nicht sein. Das passt auf Dauer allerdings nicht zusammen.

BSZ:
Bis wann ist denn das bestehende Rentensystem überhaupt noch stabil?
Werding: Bis zum Jahr 2030 wird es noch funktionieren. Danach wird die Zahl der Rentenempfänger schnell weiter steigen. Gleichzeitig schrumpft die Zahl der Beitragszahler, in jeder Generation etwa um ein Drittel.

"Es wird langsam Zeit für die nächste große Reform"

BSZ: Was dann?
Werding: Es gibt Lösungsansätze, aber noch kein fertiges Rezept. Das Problem ist ja nicht neu. Es gab drei große Rentenreformen durch die Bundesregierung in den Jahren 2001, 2004 und 2007. Jetzt wird es langsam Zeit für die nächste.

BSZ: Wie soll diese aussehen?
Werding: Wir müssen den eingeschlagenen Reformpfad fortsetzen. Dazu gehört, die Regelaltersgrenze entsprechend der steigenden Lebenserwartung weiter zu erhöhen. Gleichzeitig braucht unser System eine ergänzende Kapitaldeckung, um die nächsten Generationen zu entlasten. Dass unsere Volkswirtschaft sich nicht mehr die hohen staatlichen Renten früherer Jahrzehnte leisten kann, wird an manchen Stellen soziale Härten erzeugen. Auch hier muss der Staat gegensteuern – durch Erwerbsminderungsrenten und eine Grundsicherung im Alter. Klingt einfach, ist es aber nicht.

BSZ: Kämpfen andere Länder eigentlich mit ähnlich großen Problemen wie wir?
Werding: Ähnlich schon, aber teils doch ganz anders. In Japan zum Beispiel ist das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern schon auf einem Niveau, das wir in Deutschland erst in zehn Jahren erreichen werden. Gleichzeitig sind uns die Japaner ein ganzes Stück weit darin voraus, Ältere weiter ins Erwerbsleben einzubeziehen, zumindest in Teilzeit. So zahlen sie auch weiter ins Rentensystem ein. Länder wie Frankreich, Großbritannien und Österreich kämpfen hingegen mit ähnlichen Problemen wie wir, aber ihre Geburtenraten sind deutlich höher als in Deutschland.

"Es fordert ja niemand, dass ein Dachdecker mit 70 noch auf dem Dach steht"

BSZ: Ist Deutschland eigentlich ein so wohlhabendes Land, dass es die Rentenlücke schlicht aus Steuergeldern schließen könnte – nach dem Motto: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, muss allein von seiner staatlichen Rente auch leben können?
Werding: Nein, da würde man schnell jährlich bei dreistelligen Milliardenbeträgen landen. Das ließe sich in dieser Größenordnung nur gegenfinanzieren durch schmerzhafte Erhöhungen von zum Beispiel Lohnsteuer und Mehrwertsteuer. Und das belastet die aktive Generation auch sehr stark.

BSZ: Sie stehen ja nicht allein mit Ihrer Forderung, das Renteneintrittsalter immer weiter nach hinten zu verlegen. Lassen Sie dabei nicht außer Acht, dass sich unsere Arbeitswelt immer mehr verdichtet? Büromenschen wie Sie und ich müssen heute immer schneller und mehr kommunizieren als zu Zeiten, als man sich noch Briefe statt E-Mails schrieb. Hält ein Mensch all dies bis über 70 überhaupt aus?
Werding: Ach, warum nicht? Es fordert ja niemand, dass ein Dachdecker mit 70 noch auf dem Dach steht. Aber er könnte, statt mit 65 ganz aufzuhören, weniger arbeiten, sich weiter einbringen, Lehrlinge ausbilden, seinen Rat und seine Erfahrung im Beruf weiter zur Verfügung stellen – und damit weiterhin Geld verdienen. Vieles ist eine Frage der vernünftigen Arbeitsorganisation. Hier können wir, wie gesagt, von Japan lernen. Japan könnte sich hingegen von uns in Europa abschauen, wie man Frauen im Berufsleben gleichstellt und stärker fördert. Und vor allem, wie man Zuwanderer zu qualifizierten Arbeitskräften und engagierten Beitragszahlern ausbildet.

BSZ: Und was soll der engagierte Beitragszahler tun, der spätestens nach Lektüre dieses Interviews weiß, dass seine gesetzliche Rente im Alter allein nicht reichen wird?
Werding: Er oder sie tut gut daran, die Rentendebatte weiter aufmerksam zu verfolgen. Damit lassen sich schon einmal böse Überraschungen vermeiden. Ansonsten ist jeder gut beraten, das Machbare zu realisieren: langfristig sparen, in Wohneigentum investieren, Geld fürs Alter zurücklegen. Hier kann man sich auch Rat holen bei Verbraucherschützern. Ein Teil des ganzen großen Problems ist: Wir leben eigentlich über unsere Verhältnisse, auf Kosten der nächsten Generation. Ratsam ist, sich einen Lebensstil anzugewöhnen, den man auch im Alter und bei weniger laufenden Einnahmen durchhalten kann. (Interview: Jan Dermietzel)# Foto (BSZ): Martin Werding (52) ist Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum.

Kommentare (1)

  1. Miiich am 29.07.2016
    Sollten wir nicht den "schottischen Weg" einschlagen, denn ich glaube nicht nur Bayerns Renten wären bei einem Bayxit aus Deutschland und einer eigenen EU Mitgliedschaft wohl mehr als sicher!
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