Unser Bayern

In München traf sich Franz Kafka 1916 auch mit Felice Bauer – und dort wurde ein Schlussstrich unter die fünf Jahre dauernde Beziehung gezogen. (Foto: SZ Photo)

03.05.2024

Intermezzi an der Isar

Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Er verließ nur selten Prag, aber dreimal besuchte er München

An Franz Kafka ist so manches wundersam und rätselhaft. Sein schriftstellerisches Werk ist, betrachtet man es ganz seitenzählerisch nüchtern, alles andere als imposant, sondern im Gegenteil recht überschaubar, ja sagen wir es ruhig: eigentlich mickrig. Dreimal hat er versucht, einen Roman zu schreiben, dreimal ist er damit gescheitert, das Geschriebene landete als Fragmente in der Schublade. Ein paar Erzählungen gibt es noch sowie Kurzprosa. Das, was davon zu Lebzeiten veröffent­licht wurde, passt in einen einzigen Band von gerade einmal 300 Seiten.

Aber jetzt kommt Teil eins des Wunders! Dieses geradezu lächerlich löchrige Werk von wahrlich übersehenswürdigem Umfang tritt nach dem allzu frühen Tod seines Verfassers einen Siegeszug an, der es auf der ganzen Welt bekannt macht. Man kann ohne Übertreibung sagen, Franz Kafka ist einer der meist gelesenen, meist beforschten und am ehesten bekannten Autoren deutscher Sprache.

Der Mann muss also, so scheint es, etwas Weltläufiges gehabt haben. Er wird sicherlich auf dem halben Erdball unterwegs gewesen sein, wird Erfahrungen und Kenntnisse gesammelt haben, die ihn so bemerkenswert anschlussfähig machen für Leserinnen und Leser in aller Welt. Von wegen! Das ist Teil zwei des Wunders. Sein Biograf Reiner Stach hat es einmal so auf den Punkt gebracht: Man müsse eigentlich nur einen Prager Stadtplan und einen Zirkel nehmen, dessen Nadel in der Mitte des Altstädter Rings aufsetzen und dann einen Kreis schlagen, der in der Realität einem Radius von vielleicht zwei Kilometern entspräche. Damit wäre dann nahezu alles umfasst, was Kafkas Leben ausgemacht hat. Innerhalb dieses Kreises würde der Ort liegen, wo er geboren wurde, all die Wohnungen, die er, der ewige Junggeselle, meist zusammen mit seiner Familie bewohnt hat, die Cafés, die er besuchte, die Schulen, die Universität, schließlich seine Arbeitsstelle, die ihm so viel Verdruss bereitete, nämlich sein Büro in der Arbeiter- und Unfallversicherung in der heutigen Na-Porící-Straße. Ein winzig kleines Prager Jedermannsleben also, in dem sich rätselhafterweise so viele Menschen anderer Kulturen und anderer Zeiten wiedererkennen können.

Nur wenig gereist

Aber um korrekt zu bleiben: Der Dichter aus Prag hat schon noch das eine oder andere gesehen von der Welt, allerdings nur von der europäischen, und da auch nur von einem eher kleinen Teil. In Amerika zum Beispiel war Kafka nie, obwohl sein erster Romananlauf, den er schon als 15-jähriger Schüler begonnen hat und den er später als Der Verschollene weiterführte, genau dort spielt, in den Vereinigten Staaten, Anfang des 20. Jahrhunderts. An einigen Details lässt sich leicht feststellen: Kafka kannte das Land so mancher Auswandererträume nur aus populären Reisebüchern seiner Zeit. Tatsächlich in eigenen Augenschein genommen hat er dagegen einige Städte in Italien. Einmal war er bei einer Flugschau in Brescia, wo sich einige Pioniere der frühen Luftfahrtgeschichte in ihren fliegenden Kisten präsentierten; er schrieb sogar einen Zeitungsartikel darüber. In Paris war er auch, freilich nur ein paar Tage. Und in Berlin, da hat er sogar, das erste und einzige Mal in seinem Leben, wenige Monate mit einer Frau zusammengelebt. Es war dies Dora Diamant, die letzte große Liebe seines Lebens. Tragischerweise war ihnen nur wenig gemeinsame Zeit gegönnt. Im Sommer 1923 lernten sie sich kennen, knapp ein Jahr später war Kafka bereits tot, elendiglich gestorben an einer Kehlkopftuberkulose in einem Privatsanatorium in Kierling vor den Toren Wiens.

Und dann gab es noch eine Großstadt, die er sogar dreimal besuchte: die bayerische Landeshauptstadt. Womit wir beim Thema „Franz Kafka und München“ wären. Dass sich dies überhaupt so überschriftenmäßig formulieren lässt, mag manchen überraschen. Aber es ist tatsächlich so, dass Kafka mit München einiges verband. Sein erster Besuch fiel in die Zeit als junger Student. Damals, 1903, hoffte er, mit und durch München könne er sich endlich frei machen von Bindungen, die er als extrem einengend, geradezu erstickend empfand. Berühmt geworden ist Kafkas Ausspruch: „Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen.“ Aber eigentlich hat er damit etwas um den Brei herumgeredet. Denn es war nicht die Stadt an sich, die ihn nicht losließ. Es waren seine Familie und deren Ansprüche, derentwegen er unbedingt fliehen musste. Nur konnte er das so offen nicht sagen. Auch später nicht. Zwar verfasste er einen legendären, seither vielfach psychoanalytisch gedeuteten Brief an den Vater, der auf 100 handschriftlich beschriebenen Seiten mit dem Patriarchen der Familie, Hermann Kafka, gnadenlos abrechnete. Nur seinem Adressaten ausgehändigt hat er ihn nie.

Zum Studium nach München

Und so schob er auch 1903 vor, er wolle nach München nur deshalb umsiedeln, um dort Germanistik zu studieren. Gefallen haben wird dem Vater diese Ausrede kaum, zumal sie einen Studienfachwechsel bedeutet hätte. Kafka hatte sich gleich nach der Matura für ein Jurastudium an der Prager Karls-Universität eingeschrieben, langweilte sich aber bei den Vorlesungen und überzog die Ränder seiner Vorlesungsskripte mit zahlreichen Zeichnungen. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des opulenten Buches Franz Kafka: Die Zeichnungen, das vor drei Jahren im Verlag C.H. Beck erschien und den Prager Autor zudem als überraschend eigenständigen bildenden Künstler zeigt. Doch egal, ob Jura oder Germanistik: Dem Vater wird das alles nicht gefallen haben, erwartete er doch von seinem einzigen Sohn, dass er einmal das Geschäft übernehmen würde, das er selber unter Mühen und Entbehrungen aufgebaut hatte. Sein eigenes Leben markierte eine typische Aufsteigergeschichte aus der Zeit vor 1900: Hermann Kafka kam vom Land, aus dem südböhmischen Wossek. Sein Vater war ein armer jüdischer Schächter gewesen, Hermann musste als Kind barfuß im Frühwinter die Fleischwaren an die Kundschaft ausliefern. Später ging er nach Prag, heiratete die sozial höher stehende Unternehmerstochter Julie Löwy und wurde Handelsreisender. Ein Typus, den Franz mehrfach literarisch verewigt hat, unter anderem in der Erzählung Die Verwandlung mit jenem Gregor Samsa, der eines Morgens als Käfer erwacht – auch er ist Handlungsreisender. Später eröffnete Hermann Kafka einen Galanteriewarenladen, keinen großen, aber doch mit etlichen Angestellten, die er laut seinem Sohn in besonders herrischer Weise traktiert haben soll. Ehefrau Julie musste ebenfalls im Geschäft mithelfen. Als Kleinkind sah Franz daher seine Eltern äußerst selten, er wurde von oft wechselnden Kindermädchen erzogen. Ein Umstand, der Reiner Stach zu der These bringt, dieses frühkindliche Alleingelassenwerden durch die Eltern habe aus Kafka einen nur bedingt bindungsfähigen Menschen gemacht.

Kein Wort über die Uni

Statt also nun in die Fußstapfen des Vaters zu treten, kam Sohn Franz mit dem Berufswunsch Geisteswissenschaftler daher oder was immer er auch mit einem Germanistikstudium beabsichtigte. Immerhin: Die Familie ließ ihn erst einmal ziehen, damit er sich in München umsehe. Kafka nahm sich ein Zimmer in der Sophienstraße, wahrscheinlich mit Blick auf den Alten Botanischen Garten, der direkt gegenüberlag. Knappe zwei Wochen blieb er in der Stadt und schrieb ein paar Postkarten nach Hause. Auf einer meinte er, das „Oberflächlichste von München“ habe er in nur zwei Tagen „betas­tet“, nun fange er an, „Blicke in das Innere zu bekommen“. Was genau das gewesen sein soll, erfahren wir leider nicht, die meisten der Karten sind verloren gegangen. Auf einer der erhaltenen heißt es: „Ich werde viel Nutzen von München haben.“ Über die Universität, an der just in diesen Monaten das Frauenstudierrecht eingeführt worden war und wo Kafka einen befreundeten Kommilitonen aus Prag kannte, verlor er kein einziges Wort. Der Nutzen mag also auf einem anderen Gebiet gelegen haben. München war, wir befinden uns mitten in der Prinzregentenzeit, gerade in der allerschönsten kulturellen Blüte. Kafka besuchte nachweislich einen Kabarettabend der Elf Scharfrichter und saß in der Künstlerkneipe Der Alte Simpl.
Und dennoch: Er brach das Münchner Intermezzo relativ früh ab und kehrte reumütig nach Prag zurück. Auch sein Jurastudium nahm er wieder auf, brachte es leidlich zu Ende, um schließlich eine Karriere bei der halbstaatlichen Arbeiter- und Unfallversicherung für Böhmen zu beginnen. Er blieb dort bis zum Juni 1923, ehe er aufgrund seiner Tuberkulose mit 39 Jahren vorübergehend frühpensioniert wurde. Ein Jahr später war er tot.

Wäre dieses verpasste Germanistikstudium in München also vielleicht eine Möglichkeit gewesen, die Kafka auf einen ganz anderen, vielleicht weniger tragischen Lebensweg hätte bringen können? Angesprochen auf diese zugegeben spekulative Überlegung meint Reiner Stach: „Man muss bedenken, dass es damals nicht so einfach war, zu einer Professur zu kommen. Sein Freund Hugo Bergmann, der unbedingt Philosoph werden wollte, hat das schmerzlich erfahren. Er war ein hochbegabter Student. Er wurde von den Professoren hofiert, sie haben ihm Empfehlungsschreiben geschrieben, und er wurde im ganzen Deutschen Reich nirgendwo als Assistent angenommen. Aus dem einzigen Grund, weil er Jude war. Das hätte auch Kafka blühen können, wenn er sich auf die Germanistik versteift hätte.“

Lachanfall bei der Beförderung

Was er allerdings nicht getan hat. Vielmehr erfüllte er gewissenhaft seinen Job bei der Versicherung und wurde auch rasch befördert. (Die Zeremonie, bei der ihm das bekannt gegeben wurde, geriet jedoch zum Fiasko: Kafka fand sie so lächerlich, dass er einen Lachanfall bekam.) Im Büro selber ließ er sich nichts anmerken, aber gegenüber seinen Freunden – allen voran Max Brod – und später dann den Geliebten, mit denen er ausufernde Briefwechsel führte, beklagte er sich bitterlich, wie sehr ihn diese Fron belaste und vom allein Wichtigen und Existenziellen abhalte: dem Schreiben nämlich. „Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein“, schrieb er im Brief an den Vater. Weil die Situation aber war, wie sie eben war, blieben ihm vorzugsweise nur die Nachtstunden zum Schreiben. Die berühmte Erzählung Das Urteil, in der es um den gleichen Vater-Sohn-Konflikt geht und die mit dem Freitod des Sohnes endet, bringt er in nur einer einzigen Nacht zu Papier, eine ungeheure Anstrengung, die ihn jedoch vollkommen euphorisierte. „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ Doch er musste nach dieser berauschenden Nacht die bittere Erfahrung machen, erst einmal gar nichts mehr schreiben zu können.

Dieses An- und Abschwellen der literarischen Produktion ist typisch bei Kafka. Während der manchmal monatelangen Phasen des Nichtschreibens fühlte er sich sinnlos und nichtsnutzig. Er musste sich dann irgendwie Ablenkung verschaffen. Reisen waren eine Möglichkeit. Im August 1911 brach er mit seinem engsten Freund Max Brod auf Richtung Italien, genauer Mailand... (Bernhard Setzwein)

Lesen Sie den vollständigen, reich bebilderten Beitrag in der Ausgabe Mai/Juni 2024 des BSZ-Onlinemagazins UNSER BAYERN. Sie können die komplette, 40-seitige Ausgabe downloaden unter www.bayerische-staatszeitung.de Für BSZ-Abonnenten ist dieser Service kostenlos, sonst 3 Euro pro Ausgabe. 

Abildungen:
Kafka war eng verwurzelt in der Prager Altstadt. Die Fotografie zeigt den Altstädter Ring mit der gotischen Teynkirche, links hinter dem Hus-Denkmal war das elterliche Geschäft. (Foto: SZ Photo)

Das Goldene Gässchen (um 1915): Im zweiten Haus links fand Kafka Ruhe zum Schreiben. (Foto: SZ Photo)

 

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