Wirtschaft

21.06.2013

Brüsseler Spitzen

Eine Glosse von Karl Jörg Wohlhüter

„Mit dem Amte wächst auch die Frau“. (Neue Leipziger Sprachregelung) Schön, dass der deutsche Volksmund immer wieder Bestätigung findet, so dieser Tage im Münchner Presseclub bei einer Plauderstunde mit EU-Kommissar Günther Öttinger. Zwar hörte man noch schwäbische Urlaute, aber dann durfte man den weltmännischen großeuropäischen Staatsmann erleben; Lichtjahre von der Stuttgarter Provinz entflogen. Seine offenbar größte Sorge ist nicht die dramatische Jugendarbeitslosigkeit im Süden der Gemeinschaft und die wahrscheinlichen sozialen Erschütterungen, nein, Schlaflosigkeit überkommt ihn bei der Frage, ob Europa noch mitreden dürfe, beim Schlagabtausch zwischen USA und China. Unter diesem Gesichtspunkt muss man dann alles verstehen, was Kommission, Rat und Parlament zustandebringen. Da spielen letztlich auch die Essig- und Ölfläschchen eine globale Rolle.
Und um die Kritiker gleich in den Boden zu stampfen, haben die Brüsseler Spitzen immer zwei Todschlag-Argumente zur Hand: die Friedenssicherung auf dem Kontinent und die künftige Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Genauer darf man freilich auf diese Aussagen nicht blicken, sicherten nicht drei Jahrzehnte die alles vernichtenden Atomwaffen den Frieden und gab es nicht auch schon vor der großen EU einen blühenden deutschen Export? Und geht man von der theoretischen Größe eines Marktes allein aus, müsste Indien schon längst eine wirtschaftliche Weltmacht sein.
Aber solche Argumente gehören zum deutschen Kleingeist. Alle Weisheiten dieser Welt sind nämlich allein in der Brüsseler Bürokratie versammelt. Ist ein großer Politiker erst einmal dem Dunstkreis des „Ländles entwachsen, erkennt er, dass der Erdball rund ist und sich ganz andere Perspektiven ergeben. So auch die von Öttinger diplomatisch angesprochene Erkenntnis, das viele EU-Bürger politische Deppen sind, weil sie falsch wählen, in Ungarn zu rechts, in Tschechien zu korrupt, in Griechenland zu unfähig, in Spanien zu verschwenderisch, und in in Italien zu sexistisch.
Oh Gott. Wäre es da nicht gleich vernünftiger, EU-Kommissare als Regierungschefs einzusetzen? In Brüssel, das wissen wir, gibt Frankreich den Ton an. Auch Kommissar Oettinger hat dies schnell gelernt und verinnerlicht. Da gingen so Worte wie „eure fragwürdigen Energiesubventionen“ oder „euere Kommunalpolitik, die den Wettbewerb verzerrt“, flüssig über die Lippen.“
Eure, das sind übrigens wir. Da gilt es schon aufzuhorchen. Denn folgt man dieser Argumentation, sind beispielsweise die Windparks der Landeshauptstadt München vor der Küste von Wales, gegen alle EU-Regeln. Und einen unfreiwilligen Einblick in die Denke der Eurokraten, die offenbar von der Erpressungstechnik großer Bankkonzerne während der Finanzkrise wenig gelernt haben, lieferte der neue Weltpolitiker am Beispiel der vorgeschlagenen Privatisierung der Wasserversorgung. Nach dem Motto, „zwei Schritt vor, einer zurück brachte“ Öttinger recht putzige Argumente: Zunächst wurde das ganze als Denkanstoss verharmlost um dann gleich die Kampfstrategie nachzuschieben. In Deutschland, so der Kommissar sinngemäss, gebe es die beste Brotauswahl der Welt, dank des freien Wettbewerbs der Bäcker. Warum sollte dieses System nicht auch bei der Wasserversorgung funktionieren?
Nein, das war kein Scherz. Und in einem Nebensatz klang eine etwas nebulöse Anmerkung mit. Solange die Kommune die Wasserversorgung in eigener Regie betreibe, habe sie ein unstrittiges Hoheitsrecht. Aber bei der Vergabe an rechtsfähige Firmen könne sich das Thema der Ausschreibung schon stellen. Leider war keine Zeit mehr für Nachfragen, wie man dann Zweckverbände oder stadteigene GmbH’s einzustufen habe.
Und die Tatsache, dass hier nicht tausende von Bäckern täglich um die Kunden kämpfen, sondern sich zwei französische Großkonzerne den Markt aufteilen würden, kam nur leise zur Sprache. Es fehlte nur noch die Anmerkung, eine Privatisierung sei alternativlos. Und mehrfach erinnerte der Kommissar seine früheren Wähler an den Grundsatz: „ihr müsst euch schon daran gewöhnen, dass es auch Entscheidungen gegen euch gibt“. Im Klartext. wenn es Frankreich gelingt, Großmächte wie Malta, Estland, Slowenien, Lettland (1,3 Millionen Einwohner) auf seine Seite zu ziehen, steht Berlin nass da. – Man wächst mit dem Amt.

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