Wirtschaft

Auch in Bayern gibt es Armut. (Foto: dpa)

06.10.2017

Wie sozial der reiche Freistaat wirklich ist

Jeder Siebte ist von Armut bedroht: AWO Bayern und der DGB Bayern sezieren den Sozialbericht der bayerischen Staatsregierung

Mehr Armut, mehr geringfügig Beschäftigte, mehr Leih- und Teilzeitarbeit sowie zu wenig bezahlbare Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen: AWO Bayern und der DGB Bayern zeigen, wie der Sozialbericht der Staatsregierung die soziale Realität im Freistaat schönfärbt. „Der vierte Bericht der bayerischen Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern (Sozialbericht Bayern 2017) ist von dem Versuch gekennzeichnet, eine öffentliche Debatte über eine Armutsgefährdung breiter Schichten der bayerischen Bevölkerung im Keim zu ersticken“, sagte Professor Thomas Beyer, Vorsitzender der AWO (Arbeiterwohlfahrt) Bayern, vor der Presse in München. Gemeinsam mit dem DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) Bayern hat die AWO Bayern den Sozialbericht des Freistaats unter die Lupe genommen. „Bereits im Mai hat der DGB Bayern die Staatsregierung dafür kritisiert, dass sie die Lage allzu positiv darstellt“, untermauerte Matthias Jena, Vorsitzender des DGB Bayern, die Aussage des bayerischen AWO-Chefs.

Dieser sieht sich in seiner Einschätzung schon allein dadurch bestätigt, dass der vierte Sozialbericht, abweichend von der bisherigen Praxis sowie entgegen der politischen und wissenschaftlichen Üblichkeit, keinerlei Definition des Begriffs „Armut“ beinhaltet. „Der Sozialbericht beschäftigt sich stattdessen beschönigend mit niedrigen Einkommen“, so Beyer.

International üblich werde die Armutsgefährdung der Angehörigen einer Personengruppe so ermittelt, dass als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens der Mitglieder der Vergleichsgruppe in einem bestimmten Gebiet zur Verfügung hat. Das mittlere Einkommen ist dasjenige, das die Einkommensbezieher in zwei gleich große Gruppen teilt. Man spricht Beyer zufolge auch vom „Median“.

Seriöse Aussage zur Armutsgefährung angemahnt


„Menschen müssen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in der Region, in der sie leben, ihr Auskommen finden. Dass irgendwo anders beispielsweise die Lebenshaltungskosten wesentlich geringer sind als im eigenen regionalen Umfeld, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Armut sei für die, die von ihr betroffen sind, immer hier und jetzt“, verdeutlichte der AWO-Chef. Dies bedeute, dass eine verlässliche, seriöse Aussage zur Armutsgefährdung letztlich nur in Bezug auf die Vergleichsdaten der eigenen Region getroffen werden kann. Aufgrund dieser Erkenntnis hatte die Sozialberichterstattung der bayerischen Staatsregierung bislang als Bezugsgröße der Armutsgefährdung primär – oder jedenfalls neben dem Bundesmedian – immer auf das mittlere Einkommen in Bayern, den sogenannten Landesmedian, abgestellt.

„Im Sozialbericht Bayern 2017 werden demgegenüber – ohne dass irgendein Hinweis auf die Abweichung existiert – Angaben zur Armutsgefährdung für Bayern ausschließlich auf der Grundlage des Bundesmedians gemacht“, so Beyer.

Wegen der in der Tendenz höheren Einkommen in Bayern bedeute das, dass mit diesem Bezug, der Anteil armutsgefährdeter Menschen in Bayern numerisch niedriger ausfällt als unter dem an sich heranzuziehenden Landesmedian. Während laut Statistischem Bundesamt die Armutsgefährdungsschwelle im Jahr 2015 für das Bundesgebiet bei 942 monatlich Euro liegt, beträgt sie im Freistaat für denselben Zeitraum 1025 Euro im Monat.

Staatsregierung bricht Datenbasis


„Die von der Staatsregierung verschwiegene Brechung auf der Basis der bayerischen Daten lässt sich der amtlichen Statistik des Bundes und der Länder entnehmen: Die eigentliche, auf den Landesmedian bezogene Armutsgefährdungsquote in Bayern (für 2015) beträgt 15 Prozent der Bevölkerung und nicht 11,6 Prozent, wie die Staatsregierung anhand des bundesweiten Medians errechnen lässt. In Bayern ist demnach mehr als jede und jeder Siebte von Armut bedroht und nicht bloß jede und jeder Neunte“, unterstrich Beyer.

Als Ursache für die Armut in Bayern hat der AWO-Chef die Einkommensentwicklung ausgemacht: „Entgegen der euphorischen Kommentierung des Sozialberichts 2017 durch die Staatsregierung nimmt Bayern bei der Einkommensentwicklung gerade der westdeutschen Bundesländer keinen Spitzenwert ein – im Gegenteil.“ Anders als etwa in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen sei es in Bayern in den Jahren 2003 bis 2013 nicht zu einem Zuwachs der preisbereinigten mittleren Nettoeinkommen, sondern zu einem Rückgang gekommen.

Besonders fatal wirkt sich diese Entwicklung laut Beyer bei der Wohnkostenbelastung aus. Der Sozialbericht Bayern 2017 ermittle die Wohnkostenbelastung für die Warmmiete im Landesdurchschnitt für Bayern auf 30 Prozent des Netto(äquivalenz)einkommens. Dabei zeige sich, dass gerade Geringverdiener unter einer deutlich höheren anteiligen Kostenbelastung beim Wohnraum leiden. „So betrug die Einkommensbelastung für das Wohnen bei Geringverdienern mit einem Nettoeinkommen unter 1000 Euro pro Monat 48 Prozent des Nettoeinkommens, das heißt 60 Prozent mehr als im Landesdurchschnitt“, rechnete der AWO-Chef vor.

Geringverdiener muss mehr für Wohnraum ausgeben als Gutverdiener


Im Vergleich mit Einkommensbeziehern zwischen 2500 bis 3000 Euro netto pro Monat (Wohnkostenbelastung bei 21 Prozent) mussten laut Beyer Geringverdiener mehr als den doppelten Anteil ihres Einkommens für ihren Wohnraum aufwenden, im Vergleich zur Einkommensgruppe ab 3000 Euro (16 Prozent) mehr als das Dreifache.

Verschärft wird die Lage Beyer zufolge noch durch die Wohnungsnot. Laut Staatsregierung und Aktionsbündnis „Impulse für den Wohnungsbau“, dem diverse bayerische Verbände des Bauhaupt- und Baunebengewerbes angehören, müssten pro Jahr in Bayern 70.000 neue Wohnungen fertiggestellt werden, um den Wohnungsbedarf zu decken. Tatsächlich seien 2015 nur 53.352 Wohnungen und 2016 nur zirka 52.000 Wohnungen fertiggestellt worden. „Daraus ergibt sich ein laufendes jährliches Defizit im Wohnungsneubau in Bayern von über 17.000 Wohnungen oder 25 Prozent“, so Beyer. Hinzu kämen noch die sich erhöhenden Rückstände beim Wohnungsneubau. Der Sozialbericht Bayern 2017 gehe allein für die Jahre 2012 und 2013 von 57.000 zu wenig gebauten Wohnungen im Freistaat aus.

„Diese Betrachtung berücksichtigen noch nicht die Entwicklung infolge des Zuzugs geflüchteter Menschen nach Deutschland und Bayern ab 2015“, so der AWO-Chef. Eine erste Einschätzung des Berliner Forschungsinstituts Empirica sieht bundesweit einen zusätzlichen Neubaubedarf allein in Bezug auf „Flüchtlinge mit Bleiberecht“ von jährlich 75.000 Wohnungen. „Nach den Maßstäben des Königsteiner Schlüssels, der eine anteilige Zuordnung nach Bayern von 15,5 Prozent zugrunde legt, würde der Neubaubedarf in Bayern in diesem Zusammenhang weiter um jeweils 11.625 Wohnungen jährlich ansteigen und läge in der Summe bei mehr als 81.500 Wohnungen pro Jahr“, verdeutlichte Beyer.

Keine amtliche Statistik über Wohnungslose


Er monierte auch, dass es bis heute keine amtliche Statistik über Wohnungslosigkeit im Freistaat gibt. Man operiere im Sozialbericht 2017 immer noch mit dem von den Wohlfahrtsverbänden durchgesetzten ersten „flächendeckenden Piloterhebung“ zur Wohnungslosigkeit in Bayern aus dem Jahr 2014. Neueres Datenmaterial gebe es nicht. Wie sehr die Wohnungslosigkeit in Bayern zugenommen habe, könne man laut Beyer allein den Zahlen Münchens ablesen. Das Sozialreferat der Landeshauptstadt gehe bis Jahresende 2017 von mehr als 9000 Wohnungslosen aus. Zum Vergleich: 2014 waren es in ganz Oberbayern „nur“ 7179.

Bayerns Sozialministerin Emilia Müller (CSU) entgegnet auf die Kritik des DGB und der Arbeiterwohlfahrt zur sozialen Lage in Bayern: „Der Sozialbericht spiegelt die Realität in Bayern wider. Denn er beruht auf Fakten und Auswertungen, die wissenschaftlich unabhängige Institute für uns erhoben haben. Sie zeigen eindeutig, dass die soziale Lage so gut ist wie nie zuvor.“ Laut Müller gebe es auch in Bayern Menschen, denen es nicht so gut geht. „Das haben wir nie verharmlost. Ich denke hier zum Beispiel an kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose. Auch Menschen, denen es wirtschaftlich gut geht, treibt die Sorge um, wie ihr Leben und unser Land in Zukunft aussehen werden. Diese Sorgen und Nöte nehmen wir ernst“, so die Sozialministerin. Der vierte bayerische Sozialbericht bestätige aber, dass die Menschen im Freistaat von der wirtschaftlichen Lage mit besten Arbeitsmarktchancen und guten Einkommen wie in keinem anderen Bundesland profitieren.
(Ralph Schweinfurth)

Kommentare (2)

  1. Mister T. am 08.10.2017
    Nein, es spielt keine Rolle, denn beide, sowohl Herr Jena, wie Herr Beyer vertreten nicht die SPD sondern ihre Interessensgruppen, also die Gewerkschaftsmitglieder und die Mitglieder des Sozialverbandes AWO. Beide sind schon lange nicht mehr in politischen Funktionen tätig, soweit sie es je waren.

    Und nun die Gegenfrage an Sie: was stimmt an der Bewertung des Sozialberichtes aus Ihrer Sicht nicht, wenn Sie doch diesen beiden Herren mangelnde Objektivität vorwerfen? Als Schwarz-Seher dürfen Sie gerne genauso wie die CSU die wirkliche soziale Lage in Bayern leugnen, die objektive Situation ist trotzdem, wie sie ist.
  2. Schwarzseher am 06.10.2017
    Dass die beiden Herren SPD-Mitglieder sind spielt hinsichtlich der Objektivität der Kritik an einer CSU-Regierung selbstverständlich keine Rolle. Es ist sogar so irrelavnat, dass man es dem Leser nicht mal mitteilen muss, gell?
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