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Vor allem nach einem Entzug unterschätzen viele Drogenabhängige die Wirkung und setzen sich eine Überdosis, warnen Experten. (Foto: dpa)

28.10.2016

Mit Nasenspray Leben retten

Gesundheitsausschuss: Experten fordern die Politik in Bayern dringend dazu auf, Suchtkranken Naloxon zu erlauben – ein Gegengift bei Überdosierung

Viele Suchtkranke sterben, weil die Mitkonsumenten bei einer Überdosis nicht den Notarzt rufen – aus Angst vor der Polizei. Naloxon ist ein Gegengift, das von Drogenabhängigen im Notfall wie ein Nasenspray benutzt werden kann. Doch obwohl es die Todesrate um 30 Prozent reduzieren könnte, ist die Abgabe an medizinische Laien in Bayern verboten. Eine Fehlentscheidung, meinen Experten.

Zwei Drittel aller Drogentoten sterben zu Hause oder in der Wohnung von Freunden. Denn statt bei einer Überdosierung einen Notarzt zu rufen, legen die Mitkonsumenten die Betroffenen zur Wiederbelebung meist nur in eine Badewanne mit kaltem Wasser. Grund: „90 Prozent haben laut einer Befragung Angst, dass neben den Ärzten auch die Polizei kommt“, erklärte Norbert Wodarz. Der Leiter der Suchtforschung am Bezirksklinikum Regensburg befürwortet daher die Abgabe von Naloxon: Dadurch hätten Konsumenten genug Zeit, die Wohnung vom restlichen Stoff zu befreien und zu verschwinden.

„Wir brauchen dringend einen weiteren Pfeil im Köcher“, meinte Direktor Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences. 80 Prozent der Drogenkonsumenten hätten laut der Weltgesundheitsorganisation bereits Überdosierungserfahrungen gemacht – 20 Prozent aller Drogentoten sind nach erzwungener Abstinenz gestorben. Allein nach verweigerter Substitution in Haft würden 90 Prozent der Drogenkonsumenten rückfällig. „Bei einem Rückfall gehen sie auf die gewohnte Dosis zurück und überdosieren dann“, erläuterte Stöver. „Naloxon nasal zu verabreichen könnte daher ein wichtiger Baustein sein, um Leben zu retten“, meinte Karl-Peter Ittner vom Universitätsklinikum Regensburg. Momentan gebe es in Bayern allerdings nur „selbst gebastelte Produkte“, obwohl international bereits zugelassene Naloxon-Präparate für die Nase auf dem Markt sind – teils sogar in deutlich höherer Konzentration als in Deutschland.

Zusätzlich sollten laut Ittner Drogenkonsumenten geschult werden, wie sie das Nasenspray verwenden, wie sie die Atemwege stabilisieren und wie der Notarzt alarmiert wird. Eine Nachbereitung ist auch für die Betroffenen unerlässlich: Viele wissen im Anschluss meist nicht, dass sie eine Überdosis hatten beziehungsweise Naloxon verabreicht bekommen haben.

Nach verweigerter Substitution in Haft werden 90 Prozent der Drogenkonsumenten rückfällig

„Es herrscht augenscheinlich Einigkeit bei den Experten“, stellte die Ausschussvorsitzende Kathrin Sonnenholzner (SPD) zufrieden fest. Die CSU-Fraktion war hingegen noch nicht überzeugt. „Könnte statt dem Umgang mit Naloxon nicht die Atemspende trainiert werden?“, fragte der Vizevorsitzende des Ausschusses, Bernhard Seidenath. Doch die Experten rieten davon ab: „Die Atemspende von Laien wird schon seit 2010 nicht mehr empfohlen“, sagte Chefarzt Markus Wehler vom Klinikum Augsburg. Grund seien mangelnde Erfahrung und fehlende Ausdauer der Helfer. „Im ambulanten Bereich ist das nicht vorstellbar und sicher auch nicht leistbar“, resümierte Wehler.

Der Münchner Notfallmedizindozent Harald Gigga teilte die Einschätzung: „Die Thoraxkompression ist wichtig und muss geschult werden – die Atemspende nicht.“ Das Einzige, was die Experten medizinischen Laien im Fall einer Überdosis ohne Naloxon raten: Den Betroffenen wie im Führerscheinvorbereitungskurs in die stabile Seitenlage bringen, in den Oberschenkel zwicken und hoffen, dass der Reiz im Gehirn ankommt, damit die Atmung wieder anspringt.

Sandro Kirchner (CSU) war dennoch skeptisch. Der Abgeordnete befürchtet, dass Drogenabhängige durch das Nasenspray leichtfertiger mit Drogen umgehen. Laut einer Studie aus Kanada ist allerdings durch Naloxon keine erhöhte Risikobereitschaft erkennbar, sagte Olaf Ostermann von der Drogenhilfe Condrobs. Auch einen Missbrauch schloss er aus: „Das Ziel ist, drauf zu sein“, erklärt er. „Und Naloxon hat den gegenteiligen Effekt.“ Tatsächlich zeigen Studien, dass selbst in den Frankfurter Fixerstuben der Drogenkonsum nicht steigt.

Ruth Müller (SPD) wollte von den Experten wissen, um wie viel Prozent die Überlebenschancen durch Naloxon steigen würden. Zwar gibt es dazu laut der Experten nur Beobachtungsstudien. „Die Zahlen sind allerdings so überzeugend, dass es keine randomisierte Studie braucht, um das zu bestätigen“, erklärte der Vorstandsvorsitzende des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in Deutschland, Joerg Hasford. Studien gingen von einer Reduzierung der Todesrate um 30 Prozent aus – was unglaublich viel sei.

Ulrich Leiner (Grüne) interessierte sich dafür, ob es durch den Missbrauch von Naloxon zu Entzugserscheinungen kommen kann. „Das ist immer eine Frage der Dosierung“, erläuterte Ärztin Kerstin Dettmer vom Verein Fixpunkt aus Berlin. Doch selbst bei einer zu hohen Dosierung seien die Konsumenten nicht automatisch abhängig. Sie forderte die Politik auf, Naloxon schnell als Nasenspray in Deutschland zuzulassen. „Und ich bin der Meinung, dass müsste rezeptfrei sein.“

„Gibt es denn überhaupt etwas, was dagegen spricht“, fragte Karl Vetter (Freie Wähler). „Ansonsten können wir die Anhörung rasch beenden.“ Ausschusschefin Sonnenholzer will jetzt Wege finden, um die Zulassung von Naloxon als Nasenspray im Freistaat zu beschleunigen. (David Lohmann)

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