Leben in Bayern

22.09.2017

Absage an die Demokratie

Nirgendwo in München war 2013 die Wahlbeteiligung so gering wie im Stadtbezirk Milbertshofen-Am Hart. Eine Spurensuche

Ein Dienstagvormittag im Münchner Stadtbezirk Milbertshofen-Am Hart. Ein Polizeiauto mit Blaulicht blockiert eine Fahrspur der Knorrstraße. Die Beamten schieben ein liegengebliebenes Auto auf den Parkstreifen. Mütter mit Kinderwagen gehen zum Einkaufen. Ein alter Herr müht sich mit seinem Rollator, die Straße zu überqueren. Und ab und zu sieht man auf den Balkonen der Sozialwohnungsblocks Männer in Unterhemden, die rauchen. Andere beobachten einfach nur so das Treiben auf der Straße. Vielleicht haben sie Spätschicht. Vielleicht sind sie aber auch arbeitslos.

In Milbertshofen-Am Hart ist die Arbeitslosigkeit gut doppelt so hoch wie in anderen Stadtbezirken. Nahezu jeder zehnte Bewohner hat keinen Schulabschluss. Und auch in einer anderen Hinsicht ist der Stadtteil bemerkenswert. Gerade einmal bei 61,5 Prozent lag die Wahlbeteiligung in Milbertshofen-Am Hart bei der Bundestagswahl 2013. In keinem Bezirk Münchens – im Schnitt gingen in der Landeshauptstadt 71,2 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne – war sie niedriger. Im gut situierten Pasing-Obermenzing dagegen haben 2013 gut drei Viertel der Wahlberechtigten ihre Kreuzerl gemacht.

Jetzt ist 2017 und die Bundestagswahl steht wieder kurz bevor. Das Direktmandat des Wahlbezirks München-Nord, zu dem Milbertshofen-Am Hart gehört, ist heiß umkämpft. Von 1965 bis 1980 stellten die Sozialdemokraten die Wahlsieger. Bis 1994 gingen dann die Direktmandate an die CSU. 1998 holte wieder ein SPD-Mann das Mandat: Axel Berg. Und verlor es 2009 an Johannes Singhammer (CSU), der nicht mehr antritt. Der Wahlbezirk München-Nord stellt damit eine Ausnahmeerscheinung im ansonsten tiefschwarzen Bayern dar.

Mehr Arbeitslose, weniger Schulabschlüsse

Am Werktor 5 von BMW ist es gerade recht ruhig, ein paar Leute kommen und gehen. 7000 Arbeiter sind auf dem Fabrikgelände beschäftigt, das den Stadtteil Milbertshofen begrenzt. Entlang der Straße vor dem Werktor finden sich jede Menge Wahlplakate. Das von dem CSU-Kandidaten Bernhard Loos, der gerne „Klartext“ redet. Und das vom SPD-Bundestagsabgeordneten Florian Post, der auf eine angemessene „Rente für gute Arbeit“ setzt. Auffallend viele Wahlplakate linker Parteien gibt es auch. So tritt für die Linke in Milbertshofen mit Ates Gürpinar der Landessprecher als Direktkandidat an. Auch die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) ist mit Plakaten vor Ort, ebenso wie die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands. Natürlich aber fehlt auch nicht die Werbung von Grünen, Piraten, ÖDP und AfD.

Die Direktkandidaten sind sich der sozialen Probleme in Teilen ihres Wahlkreises bewusst. „Der Wahlkreis München-Nord ist in der Tat der schwierigste Wahlkreis in ganz Bayern“, sagt CSU-Mann Loos. Er setzt auf das direkte Gespräch, geht von Haustür zu Haustür. Auch an den Infoständen komme seine Präsenz gut an, meint er. SPD-Konkurrent Florian Post (SPD) erklärt, er habe „in den vergangenen Jahren intensiv Vereine und Organisationen im Stadtteil besucht“, um in Kontakt mit den Bürgern zu kommen.

Soziale Einrichtungen gibt es im Münchner Norden viele, von einer ambulanten Erziehungshilfe über die Werkstatt für berufliche und soziale Integration oder dem Verein Stadtteilarbeit, der mit Hallenfußball die Jugendlichen von der Straße holen will. Sie alle versuchen dazu beizutragen, in Milbertshofen prekäre Verhältnisse zu mildern. Und dann ist dort auch der katholische Männerfürsorgeverein aktiv, der eine Einrichtung für obdachlose Männer betreibt. Ob die Bewohner wählen gehen? „Das ist bei uns wie in der Gesellschaft allgemein, also sehr verschieden“, sagt Einrichtungsleiter Christian Jäger. „Manche gehen hin und manche meinen, das bringt ja sowieso nichts.“

Die sozial Abgehängten gehen nicht mehr wählen, lautet sinngemäß das Fazit einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Bundestagswahl 2013. Dort heißt es: „Während in sozial besser situierten Stadtbezirken überdurchschnittlich viele Menschen ihr Wahlrecht ausüben, ziehen sich in den ökonomisch schwächeren Vierteln viele Menschen aus der demokratischen Teilnahme zurück.“
Dass die Wahlbeteiligung unter anderem in Abhängigkeit von der sozialen Lage steht, weiß auch Florian Post. Darüber hinaus verweist er auf eine Aussage der Bundesregierung, wonach auch Bürger mit Migrationshintergrund seltener zur Wahl gehen.

Ebenfalls stark: Populisten und Protestparteien

„Wahrscheinlich hat die geringe Wahlbeteiligung mit dem hohen Ausländeranteil zu tun“, glaubt denn auch ein Hotelfachmann, der gerade vorbeikommt. Er lebt seit fünf Jahren in Milbertshofen und geht „selbstverständlich“ wählen, wie der 41-Jährige erklärt. „Sonst verschenkt man ja die Stimme.“ Nicht so Joe, ein 37-Jähriger ohne Berufsabschluss („mache was Handwerkliches“). Seine Begründung: „Ich kenne mich da zu wenig aus. Vielleicht später mal.“ Die 70-jährige Rentnerin, die nun vorbeikommt, hat dagegen schon immer gewählt. Aktuell ist die ehemalige Sekretärin aber unzufrieden. Sie glaubt mit Blick auf die Migranten in ihrem Viertel, dass „auf die Mehrheitsgesellschaft keine Rücksicht mehr genommen wird“. Was sie wählen wird? „Das können Sie sich doch denken“, sagt sie.

Auch das wird spannend: Das Abschneiden der AfD. In München kamen die Rechtspopulisten 2013 auf insgesamt 4,5 Prozent der Stimmen. In Milbertshofen-Am Hart aber erreichten die Populisten bereits vor vier Jahren 5,1 Prozent der Stimmen.
(Rudolf Stumberger)

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