Politik

Experten sind sich sicher: Terroristen nehmen weder die beschwerliche Balkan-Route noch den gefährlichen Seeweg. (Foto: dpa)

06.11.2015

Die Mär vom Flüchtlings-Fundamentalisten

Politiker warnen vor als Asylbewerber getarnten Terroristen – Hinweise darauf hat bisher keine Sicherheitsbehörde

Im September warnte der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) davor, Flüchtlinge „unkontrolliert und unregistriert durch Deutschland und Europa“ reisen zu lassen. Er nannte es völlig unverantwortlich, dass Tausende ins Land kommen „und man nur unzuverlässig genau abschätzen kann, wie viele davon Isis-Kämpfer oder islamistische Schläfer sind“. Bundespräsident Joachim Gauck vermutete zur gleichen Zeit, dass unter den Flüchtlingen vermutlich auch „Fundamentalisten und andere Ideologen“ seien, „die unsere Gesetze missachten und die freiheitliche Ordnung bekämpfen“. Der tschechische Präsident Milos Zeman glaubt an „Schläfer-Zellen“, die nach Europa kommen, und der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump sprach in diesem Zusammenhang von einem „trojanischen Pferd“.

Zwei Monate später lässt sich sagen: „Wir haben derzeit keine konkreten Hinweise darauf, dass unter den Flüchtlingen Terroristen sind“, resümiert der Chef des Bundesnachrichtendiensts, Gerhard Schindler. Seiner Meinung nach sei es unwahrscheinlich, dass Terroristen die waghalsige Bootsflucht über das Mittelmeer wagten, statt mit „gefälschten oder gestohlenen Papieren und einem Flugticket“ nach Deutschland zu gelangen.

Gleiches bestätigt das Bundeskriminalamt der Staatszeitung. Zwar gebe es aktuell über 90 Hinweise auf mögliche Angehörige islamistischer Gruppierungen unter den Flüchtlingen. „In Bezug auf jihadistische Gruppierungen, die Flüchtlingsströme zielgerichtet zur Infiltration des Bundesgebiets durch Einzeltäter oder Gruppen nutzen, liegen derzeit keine belastbaren Erkenntnisse vor“, betont ein Sprecher. Die meisten Hinweise entpuppen sich als Falschmeldung: Entweder haben Flüchtlinge andere Flüchtlinge schlicht mit ihrem Peiniger verwechselt. Oder, vermuten Sicherheitsexperten, versuchten sie durch Anschuldigungen oder Selbstbelastungen, ihren Asylantrag beschleunigen zu können.

Das Bundesinnenministerium hat ebenfalls „keine Erkenntnisse“ über eine zielgerichtete Einschleusung von Terroristen innerhalb von Flüchtlingsgruppen. Ein Generalverdacht gegen Menschen, die aus Angst und Furcht ihre Heimat verlassen, sei auch wenig hilfreich, betont man dort. „Bisher hat sich keiner dieser Hinweise irgendwie bewahrheitet“, bestätigt auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Fehlanzeige meldet auch das bayerische Innenministerium. Es steht mit den internationalen Polizeibehörden und Geheimdiensten in engem Austausch. Allerdings: „Angesichts des immensen Zustroms und der unvollständigen Erkenntnisse und Hintergründe zu irregulär einreisenden Personen weist das Lagebild sicher Lücken auf“, sagte Joachim Herrmann (CSU) der BSZ.

Der Fundamentalismus-Experte Sebastian Huhnholz vom Münchner Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft hat zwar Verständnis für solche Aussagen. Schließlich wollten Politiker im Fall der Fälle nicht in die politische Verantwortung gepresst werden. „Die Gefahr ist aber, dass durch solche Aussagen auch die Motivation zur Umsetzung solcher Szenarien erhöht zu werden droht.“ Die Logik von Terrorismus sei, Angsterwartungen mustergetreu zu bedienen, um so den großtmöglichen Schrecken zu erzeugen. Daher wünscht sich Huhnholz, „die Flüchtlingsfrage kommunikationspolitisch-massenmedial nicht mit der Frage innerdeutscher Terroranschlagsmöglichkeiten zu verbinden, bevor nicht verlässliche Hinweise vorliegen“.

Experte: Spekulationen erhöhen die reale Gefahr

Vor einer „Überschätzung“ der Gefahr durch Terroristen in Deutschland warnt ebenso der Berliner Migrationsforscher Ruud Koopmans. „Das wäre nicht klug, der Islamische Staat braucht seine Leute vor Ort“, erklärt er. Zwar würde die größte Zahl der Syrer vor dem Assad-Regime fliehen und nicht vor dem IS. Und unter diesen sunnitischen Muslimen sei „zweifellos“ eine Gruppe, die einer eher traditionellen Form des Islams anhänge. „Das ist ein Unsicherheitsfaktor, aber kurzfristig keine Bedrohung.“

Aus Sicht des bayerischen Flüchtlingsrats ist der Versuch, die Aufnahme von Flüchtlingen als Gefahr darzustellen, „ungebührlich“ und „vielfach fremdenfeindlich motiviert“. Auch wenn Stephan Dünnwald Einreisekontrollen als sinnvoll erachtet: „Terroristen werden Grenzen eher zielgerichtet überschreiten, wo sie den Unwägbarkeiten zahlreicher Kontrollen und Gefahren weniger ausgesetzt sind“, erläutert er. Statt Flüchtlinge auszugrenzen, sollten sie vielmehr möglichst frühzeitig integriert werden.

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Paul Wengert, hält es ebenfalls für wenig wahrscheinlich, dass Terroristen als Flüchtlinge getarnt den „beschwerlichen, gefährlichen und langen Weg“ über den Balkan oder das Mittelmeer nehmen. Auch, dass sich Flüchtlinge radikalisieren lassen, hält Wengert für unwahrscheinlich. „Es sind ja neben der Assad-Diktatur auch die Extremisten und ihr brutales Regime wie der IS, vor dem die Menschen geflüchtet sind.“

„Wenn Politiker konservativer Parteien weiterhin ohne belastbare Grundlage solche Anschuldigungen erheben, werden irrationale Ängste in der Bevölkerung geschürt“, ist die Vizechefin der Grünen, Katharina Schulze, überzeugt. Dieses „geistige Brandstiftertum“ heize Vorurteile an und mache Fremdenfeindlichkeit salonfähig. Zur Versachlichung der Diskussion hat Schulze jetzt eine schriftliche Anfrage an die Staatsregierung gestellt, die genaue Fakten liefern soll – denn viele im Internet kursierende Zahlen sind wohl IS-Propaganda.

Es gibt es in Deutschland belegte Anschlagszahlen – allerdings nicht von, sondern auf Flüchtlinge: So gab es bis Ende Oktober 543 Attacken von rechtsmotivierten Tätern gegen Asylunterkünfte, darunter Tötungsdelikte und Sprengstoffanschläge. (David Lohmann)

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