Politik

Wo kommen die Kinder her? Eine Frage, die Mädchen und Buben ihren Eltern früher oder später stellen. (Foto: DPA)

07.12.2012

Wer sagt es unserem Kinde?

Den Sexualkundeunterricht empfinden viele Lehrer als eine Belastung – Externe Kräfte können unterstützend wirken, kommen aber zu selten zum Einsatz

Erotische Werbung an der Bushaltestelle, nackte Schöne in Illustrierten, Liebesakte, aber auch sexuelle Gewalt auf allen Kanälen in TV und Internet: Das Thema Sexualität ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Eine Herausforderung auch an die Erziehung, denn immer früher tauchen bei Kindern Fragen auf. „Unbeschadet des natürlichen Erziehungsrechts der Eltern gehört Familien- und Sexualerziehung zu den Aufgaben der Schulen“, heißt es in Artikel 48 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes. Sie sei als „altersgemäße Erziehung zu verantwortlichem geschlechtlichen Verhalten Teil der Gesamterziehung mit dem vorrangigen Ziel der Förderung von Ehe und Familie.“

Manche Lehrer erröten beim Thema Sex

Alles schön und gut, sagt Linus Dietz, beim Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) Leiter einer Arbeitsgruppe zum Thema. Auch die Richtlinien aus dem Jahr 2002, die bestimmen, in welchem Alter welche Inhalte vermittelt werden sollen, seien im Großen und Ganzen in Ordnung. Das Problem sei die Umsetzung. Allzu leicht kommen Heranwachsende heutzutage im Internet in Kontakt mit pornographischen Inhalten, die extreme Rollenklischees und erotisch verbrämte Gewalt zeigen. Nach außen hin cool, sind Kinder und Jugendliche dadurch oft überfordert und verstört. Ein sachgerechter Sexualkundeunterricht müsste all dies im Blick haben, und der gesetzliche Rahmen dafür ist da.
So soll es in der Grundschule um die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gehen, um Rollenbilder, aber auch um Prävention von sexuellem Missbrauch. In späteren Jahrgängen werden Pubertät, Schwangerschaft und Geburt thematisiert, mit zunehmendem Alter die Sexualentwicklung des Einzelnen, aber auch Geschlechtskrankheiten, Aids und eben der Einfluss von Massenmedien. Je nach Jahrgangsstufe sind für den Aufklärungsunterricht drei bis zehn Schulstunden vorgesehen.
Im Idealfall wird zu Beginn des Schuljahres in einer Lehrerkonferenz besprochen, wie das Thema behandelt werden soll. Für jede Klasse gibt es einen Lehrer, der speziell für das Thema Sexualkunde zuständig ist. Unterrichtet werden soll fächerübergreifend – eine schwierige Vorgabe. „Dass das Thema in Biologie und Religion zur Sprache kommt, ist klar. Aber viele Teilaspekte sind schwer unterzubringen und fallen einfach weg“, beklagt Linus Dietz. Niemand wisse so richtig, wie man die Sache anpacken soll. Insgesamt sei man vom Idealfall weit entfernt: „Ich unterstelle: Es findet sehr wenig Sexualkunde an den Schulen statt“, so der ehemalige Schulleiter, der sich als Vorsitzender der Gesellschaft für Geschlechtserziehung auch international in Sachen Sexualaufklärung engagiert.
Die Ursache für die große Unsicherheit: Sexualkunde spiele in der Lehrerausbildung an der Uni kaum eine Rolle, im Referendariat werde nicht genügend darauf eingegangen, und auch im Verlauf der Berufstätigkeit werde die Lücke nicht geschlossen. Auf der Suche nach Materialien für den Unterricht fühlten sich viele Lehrer allein gelassen. „Da passiert es schon mal, dass ein Film gezeigt wird, der eigentlich nicht geeignet ist“, sagt Dietz. Von Seiten des Kultusministeriums müsse eine zentrale Stelle geschaffen werden, die die Schulen fachkundig berät und aktuelle Entwicklungen beispielsweise im Internet im Blick hat. Und es müsse mehr Geld für die Lehrerbildung zur Verfügung gestellt werden, fordert Dietz.
Dass viele Lehrer ein Problem haben, mit ihren Schülern über das Thema Sex zu sprechen, das hat Maria Lampl, die Vorsitzende des Bayerischen Elternverbandes (BEV) beobachtet. „Ich habe bei Elternabenden manchen Lehrer erröten sehen“, sagt Lampl. Wenn aber die Kinder merkten, dass der Lehrer das Thema nicht gern bespricht, mieden sie es in Zukunft. „So lernen die Kinder früh: Sexualität ist etwas, worüber man nicht spricht.“ Dabei würden die Kinder untereinander immer früher mit dem Thema konfrontiert. „Als Erstklässlerin kam meine Tochter heim und fragte mich, warum die Drittklässler immer von ‚Ficken’ sprechen“, so die vierfache Mutter.
Von Seiten der Schule werde auf solche Dinge nicht rechtzeitig reagiert, und auch in den Elternhäusern sei man oft nicht offen genug. Dass ein Mädchen mit zehn Jahren noch nicht wisse, dass es bald menstruieren werde, sei nicht hinnehmbar. Sexualität gehöre zum Leben wie Essen und Trinken. Und gerade bei den Jüngeren sei Offenheit wichtig, um sie auch stark und selbstbewusst zu machen gegen sexuelle Übergriffe, sagt Lampl, die auch Vorsitzende der „Frauen von Avalon“ in Bayreuth ist. Die betreiben Präventionsarbeit in Sachen sexuelle Gewalt.
Externe Kräfte haben dem Klassen- oder Fachlehrer einiges voraus beim Thema Sexualität, meint Lampl: Die Kinder könnten ihre Fragen einer fremden Person viel unverkrampfter stellen. Deshalb sei es nicht nachvollziehbar, dass das Sozialministerium Pro Familia und Donum Vitae vor zweieinhalb Jahren die Unterstützung für die Aufklärungsarbeit in Grundschulen versagt habe. Als Begründung nennt das Sozialministerium die wachsenden Aufgaben in der Schwangerenberatung: „Diese Kernaufgabe hat Vorrang gegenüber Veranstaltungen an Grundschulen. Sofern einzelne Grundschulen eine Entlastung ihrer Lehrer bei ihrer Aufgabe des Sexualkundeunterrichts wünschen, muss dies vom für die Schulen zuständigen Kultusministerium finanziert werden und darf nicht zu Lasten der Kernaufgabe der Schwangerschaftsberatungsstellen gehen“, heißt es aus der Pressestelle.
An Grundschulen kämen Experten vor allem für die Lehrerfortbildung in Frage, so das Kultusministerium. Dafür stehe den Schulen ein Fortbildungsbudget zur Verfügung. Einsätze in den Klassen könnten jederzeit auch durch die Schule oder durch den Elternbeirat finanziert werden. Obwohl auch der BLLV die Beschränkungen beim Einsatz von externen Beratern kritisiert – für Linus Dietz ist dieser Einsatz eher ein Behelf: Weil sich die Lehrer nicht genügend vorbereitet fühlten, gäben sie die Aufgabe gern nach außen ab. So seien in den 1980er und 1990er Jahren in großem Umfang Ärzte an Schulen unterwegs gewesen, um die Schüler über die Immunschwächekrankheit Aids zu informieren.
Grundsätzlich sei es jedoch nicht unproblematisch, externe Kräfte in die Schule zu holen. Initiativen wie „Mit Sicherheit verliebt“, die bundesweit Medizinstudenten auf Wunsch in die Schulen schicken, um über das Thema zu sprechen, hätten sicher ihren Reiz. Aber im Sinne der staatlichen Schulaufsicht könne das nicht sein. Dietz ist überzeugt: Mit dem entsprechenden Rüstzeug sind Lehrer die besten Ansprechpartner: „Da gibt es am Anfang vielleicht ein bisschen Gekicher, da muss man eben durch. Aber wer einen guten Unterricht macht, ist auch ein guter Sexualerzieher.“ (Anke Sauter)

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