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Aus dem Kaufhaus Finsterwalder sind zahlreiche Rechnungen erhalten, auf denen Hersteller verschiedenster Produkte stolz mit Ansichten ihrer eigenen Unternehmungen werben. (Foto: Anja Behringer)

01.03.2024

Kolonialwaren fürs Fischerdorf

Der Tutzinger Schreiner Nikolaus Finsterwalder machte vor 130 Jahren aus seiner Kramerei ein führendes Kaufhaus

Der Abriss eines 70 Jahre alten schlichten Vorkriegshauses ging an einem windigen, heißen Sommertag des Jahres 2007 in Tutzing ganz normal vonstatten: Der Bagger griff in den flachen Dachstuhl – wegen der Hitze und des Staubes begleitet von einem kräftigen Wasserstrahl –, die ersten Balken waren schon herausgerissen. Da flatterten plötzlich Stapel von Papieren über das Grundstück: Die Dokumente waren von Wasser und Staub zunächst unleserlich gemacht, aber ohne Mäusefraß in vollem DIN-A4-Format. Bei genauerer Betrachtung stellten sie sich als alte Kaufmannsrechnungen und Lieferscheine heraus, 1907 ausgestellt: säuberlich in Sütterlinschrift verfasst, die Briefköpfe mit detaillierten Stahlstichen entweder der Ansicht vom Firmengebäude des Produzenten oder mit kunstvollen Geschäftswappen der Lieferanten verziert. Aus dem Bauschutt konnten allerdings nur wenige Blätter gerettet werden, mit denen der Fehlboden des Daches einst verfüllt worden war. Ihre vorsichtige Reinigung machte sie wieder lesbar und warf eine Menge Fragen auf: Woher kamen sie und warum wurden sie dort gelagert? Naheliegend zu Letzterem: Das Haus war 1937 gebaut worden, in dieser Zeit gab es wenig Füllmaterial, Papier wurde nicht weggeworfen, sondern zweitverwertet, wie so oft auch hier zur Dämmung.

Adressat der Rechnungen und Lieferscheine war Nikolaus Finsterwalder, ein Kaufmann in der Tutzinger Bahnhofstraße. Dass die Unterlagen 1937 als Altpapier Verwendung fanden, lag daran, dass Finsterwalder zu diesem Zeitpunkt sein Geschäft bereits verkauft hatte und schon gestorben war. Er lebte nach zwei Ehen – die erste Frau war verstorben, die zweite Gattin verschwand – bis 1930 und blieb ohne Nachkommen.

Kramerladen in der Villa

1852 war Nikolaus Finsterwalder in Oberfinning im Landkreis Landsberg am Lech geboren worden. Als Neututzinger ließ er 1890 in der Hallberger Allee eine Villa im neugotischen Stil bauen, in deren straßenseitigem Erker er eine Kramerei einrichtete. Drei Jahre später verkaufte er das Anwesen an den alsdann 30 Jahre in Tutzing praktizierenden Hofrat Johann Beisele, dessen Namen das noch heute erhaltene Haus weiterhin trägt.

Finsterwalder gab sein ursprüngliches Gewerbe, die Schreinerei, auf und konzentrierte sich auf den Ausbau der Kramerei, für die er auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein neues Haus erstellen ließ, das er 1906 mit einem Ladenanbau vergrößerte. Neben allem Möglichen des täglichen Bedarfs – von Wäsche über Spielwaren bis zu Putzmitteln und Ölen – führte er bald auch Kolonialwaren, wie die Rechnungen belegen. Der Alttutzinger Josef Pauli („Pauli Sepp“) wusste noch in den 1980er-Jahren zur Produktpalette zu berichten: „Beim Finsterwalder bekam man fast alles, was man früher in Tutzing brauchte, vom Goaßlschnürl bis zum kompletten Waschlavoir.“ Und der Kaufmann selbst machte für sich Reklame mit „Größtes Warengeschäft am Platze“. Es wird erzählt, dass seine Kunden selbst vom Ost­ufer des Starnberger Sees per Boot übersetzten.

Wirtschaftliches Soziogramm

Finsterwalders einst neu gebautes Geschäftshaus wurde 2013 umgebaut. Dabei kamen auch im Kniestock dieses Anwesens mehrere Ordner mit den vom Abbruchhaus schon bekannten Unterlagen zutage. Allerdings war nur ein Ordner von Schädlingsbefall verschont, der der Autorin übereignet wurde. Er umfasst ab Juli das zweite Halbjahr 1898, was vermuten lässt, dass Finsterwalder selbst bei der Erweiterung des Hauses acht Jahre später die Ordner der vergangenen Jahre im Kniestock gelagert hat.

Die Rechnungen geben aufgrund ihrer Gestaltung und Angaben zum Produktumfang der betreffenden Firma interessante Einblicke einerseits in das Lieferspektrum der Hersteller, andererseits in die Bedürfnisse der Konsumenten. In unserem Fall der Einwohner eines Fischerdorfs am damaligen Würmsee (heute Starnberger See) zur vorletzten Jahrhundertwende. Laut der Volkszählung am 1. Dezember 1910 lebten in der Gemeinde mit ihren angegliederten Ortschaften etwa 2000 Menschen. Die Bestellungen Finsterwalders bilden ein wirtschaftliches Soziogramm des damaligen Lebens ab. Denn die Industriellen hatten ihre Villen für die Sommerfrische meist schon gebaut, die ersten reichen „Zugroasten“ bewohnten ganzjährig ihre Landhäuser und Touristen stürmten mit Eisenbahn und Dampfboot in der Saison den Ort. Die Kundschaft war also höchst heterogen, und viele von Finsterwalders Artikeln konnte sich die meist arme ländliche Bevölkerung nicht leisten.

So orderte der Kaufmann neben immer wiederkehrenden Bedarfsartikeln auch zahlreiche Saisonwaren, zum Beispiel im August Ansichtskarten, Strohhüte, Körbe und Schirme, zu Ostern und im Dezember Spielwaren. Im Frühjahr war der Bedarf an Soda und Seifen größer, zu Weihnachten an Spezereien und Süßwaren ... (Anja Behringer)

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