Wirtschaft

Vereint gegen den Ausbau von Höchstspannungstrassen zeigten sich der nordbayerische Verteilnetzbetreiber und Energieversorger, der Bund Naturschutz, Trassengegnerverbände und ein Landrat. Auf dem Bild: Hauptredner Professor Lorenz Jarass (3.v.r.) neben den anderen Rednern Landrat Armin Kroder (Kreis Nürnberger Land, Freie Wähler, 5.v.r.), Herbert Barthel (Energiereferent Bund Naturschutz, rechts) und Reiner Kleedörfer, Prokurist der N-ERGIE AG (3.v.l.). Weiter im Bild u. a.: Dörte Hamann vom Aktionsbündnis gegen die Süd-Ost-Trasse (2.v.l.) und Richard Mergner, Landesbeauftragter vom Bund Naturschutz Bayern (4.v.r.). (Foto: Wraneschitz)

28.07.2017

Von Leitungen, Kohlestrom und der „Trassenlüge“

Regionalversorger N-ERGIE macht gemeinsame Sache mit Naturschützern und Trassengegnern

Wenn der Vortragsraum eines Energiekonzerns an einem Sommerabend bei gefühlten 50 Grad bis halb elf Uhr abends voll besetzt ist und kein Besucher vorzeitig aufsteht, dann muss etwas Bemerkenswertes passieren. So kürzlich geschehen im Uhrenhaus der Nürnberger Stadtwerke: Da fand der offensichtliche Schulterschluss zwischen der N-ERGIE AG, Gegnern neuer Stromtrassen, Bund Naturschutz (BN) und Kommunalvertretern statt.

Einer der Gäste in der ersten Reihe: Armin Kroder (Freie Wähler), Landrat des Landkreises Nürnberger Land. Der findet „diese Situation aus N-ERGIE, BN und den Initiativen spannend und kreativ“. Dass „im Moment andere Themen die Medien dominieren“, ist für Kroder schade. Denn deshalb komme „die Wahrheit: Die Kohletrassenlüge“ dort zurzeit nicht vor. Und auch nicht sein „Glaube an eine gute Energiewende, regional und dezentral. Dafür bin ich. Und deshalb bin ich auch gegen Monstertrassen.“

„Trassenlüge“: Dieses Wort dominiert den Raum, in großen Lettern steht es auf Banderolen neben der Bühne. Aber was genau bedeutet dieses Wort? Der aus Regensburg stammende Wirtschaftswissenschaftler der Hochschule RheinMain, Professor Lorenz Jarass, erwähnt es in seinem Vortrag nicht direkt. Aber „aus Daten der Bundesnetzagentur (BNetzA), die wir herausgeklagt haben, erkennt man: Die durch Bayern geplanten Leitungen sind ausschließlich für die ostdeutschen Kohlekraftwerke notwendig.“ So umschreibt der Berater von Bundesregierung und EU-Kommission die „Trassenlüge“.

Überlastetes Stromnetz


Auch wenn BNetzA, Bundesregierung, Übertragungsnetzbetreiber ÜNB oder Braunkohle-Ausbuddler allesamt anderes behaupten: Für Jarass sind nicht Windkraftwerke in Norddeutschland der Grund, dass inzwischen über 10 000 Kilometer Höchstspannungsleitungen neu geplant werden. „Weil die konventionellen Kraftwerke auch dann einspeisen dürfen, wenn die erneuerbaren Energien viel Strom produzieren, wird das bestehende Stromnetz überlastet.“ Für den Wissenschaftler sind also vor allem ostdeutsche Braunkohlekraftwerke Schuld am Netzausbau. Der ist im Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) und dem laufend aktualisierten Netzentwicklungsplan (NEP) festgelegt.

Kein sofortiges Abschalten


Nein, Jarass fordert kein sofortiges Abschalten dieser Kraftwerke, die direkt an den Braunkohletagebauen stehen: „In kleinen Schritten“ solle das passieren. Aber zuerst müsse man „das Energiewirtschaftsgesetz ändern: Das bestehende Einspeiserecht für konventionelle Energien muss weg. So lange hilft auch kein Einspeisevorrang für Erneuerbare“, räumt er mit einem „Missverständnis bei vielen“ auf.

Der Braunkohlestrom werde ohnehin nicht in Bayern oder Baden-Württemberg gebraucht, wie immer wieder zu lesen sei: „Der wird heute schon ins Ausland, nach Südosteuropa, nach Österreich oder Italien transportiert“ und dort oft sogar verschenkt. Aber „Braunkohle bei viel Ökostromproduktion abregeln, das lassen diese Kraftwerke nicht zu“. Deshalb müssten sie baldmöglichst ganz abgeschaltet werden.

Niemand weiß, wie heiß die Leiter werden


„Und dann bräuchte man keinen Netzausbau, sondern vor allem Leiterseilmonitoring.“ Das geht nach Jarass´ Vorstellungen mit recht preiswerten Temperatursensoren. Dann könne man wesentlich mehr Strom durch die bestehenden Leitungen schicken. Je mehr Strom fließt, desto mehr werden Leitungen aufgeheizt. „Aber heute weiß niemand, wie heiß die Leiter wirklich sind.“ Deshalb würden sie nie mit der festgelegten Maximaltemperatur von bis zu 80 Grad Celsius belastet.

Für dieses fehlende Leiterseilmonitoring müssen vor allem Normalstromkunden und der Mittelstand zahlen: Auf deren Stromrechnung machen die Durchleitungsgebühren einen Großteil aus. Der werde weiter steigen mit dem „unnötigen Übertragungsnetzausbau“, rechnet Jarass vor.
Jedoch kämen im NEP diese Ausbaukosten gar nicht vor. Den ÜNB würden ohnehin für jede Leitung Gewinne garantiert, für alte wie neue. Weshalb die das Netz ausbauen und ihre „Pflicht, erfüllen, Kohlestrom durchzuleiten“.

Kostenexplosion


Durch den Bau der neuen Gleichstromtrassen, kurz HGÜ, komme es gar zur „Kostenexplosion“, sagt Rainer Kleedörfer, Prokurist für Unternehmensentwicklung bei der N-ERGIE AG. Verantwortlich dafür sei „nicht die Energiewende, auch wenn das die BNetzA immer beteuert: Es ist vielmehr das nicht zusammenpassende Geflecht aus Gesetzgebung und Umsetzung.“ Der Stadtwerke-Mann macht dieselbe Rechnung wie Jarass auf: Reduzieren des Leitungsausbaus, dafür dezentrale Speicher und Gaskraftwerke bauen, um Lastspitzen zu decken.

Zumal das viele Geld in neue Übertragungsnetze ohnehin „oft bei angelsächsischen Finanzhaien landet. Denen die wichtigste Infrastruktur unseres Landes zu übergeben, war ein riesiger Fehler“. Bekanntlich wurde Anfang des Jahrtausends das deutsche Energiesystem entflochten. Dabei übernahmen auch ausländische Fondsgesellschaften die hiesigen ÜNB. Nun sagt ausgerechnet N-ERGIE-Prokurist Kleedörfer: „Wir fordern: Das Übertragungsnetz muss mehrheitlich in die Hand des deutschen Steuerzahlers zurück.“ Die 24 Milliarden Euro, die der Staat von der Atomindustrie für ein Endlager bekommen habe, wären hier gut angelegt.

Gewaltenteilung ist egal


Einen Seitenhieb gibt’s für die BNetzA: „Die nimmt die Gewaltenteilung nicht mehr ernst, macht inzwischen Gesetzgebung.“ Das zu ändern wolle sein Konzern „massiv gemeinsam mit der Wissenschaft, Bürgern, Organisationen an die Politik herantragen. Gemeinsam haben wir eine Chance“, da ist Kleedörfer sicher.

Da ist Herbert Barthel gerne dabei. „Gemeinsam Politik mit Ihnen machen, dieser Versuch ist schon etwas Besonderes“, gibt der Energiereferent des Bundes Naturschutz Bayern zu. Denn dass die N-ERGIE eine Studie Dezentralität und zellulare Optimierung – Auswirkungen auf den Netzausbaubedarf bei Prognos und anderen in Auftrag gab und dann auch noch zum „Bestandteil des Geschäftsberichts 2016“ macht, das ist nicht üblich in der Welt der Energiekonzerne.

Alternativprüfung fehlt


 Barthel gibt zu, es sei „schwer, bestehende Leitungen abzubauen. Aber für jede neue braucht es einen Rechtfertigungsgrund.“ Den aber hätten Regierung wie BNetzA bis heute nicht geliefert. Denn „es fehlt eine Alternativenprüfung: Wie würden Regionalität, wie würde ein dezentrales Energiesystem anstelle von Netzausbau funktionieren?“ Nur der Elektrotechnikverband VDE oder die N-ERGIE hätten das getan. Stattdessen wurde im NEP der Endp1 unkt der HGÜ-Leitung „Südostlink“ von Augsburg nach Landshut verlegt, „ohne energietechnische, physikalische Simulation. Entstand diese Planung machtpolitisch“, weil die Verantwortlichen in der Oberpfalz keine so heftige Gegnerschaft vermuten wie im Kreis Nürnberger Land? „Wir lehnen die Netzausbauplanung ab, weil wir die Aussagen nicht glauben. Auch die dramatischen Anforderungen an das 1,5-Grad-Ziel der Pariser Klimakonferenz stehen dabei nicht im Blick“, habe der BN festgestellt. Weshalb auch der Umweltverband BN „gemeinsam eine Energiekonzeptplanung für ganz Deutschland erzwingen“ wolle, bestätigt Herbert Barthel.

Einig mit allen anderen Protagonisten ist sich der BN-Mann im Übrigen bei dem Hinweis: Im Herbst sei Bundestagswahl. Da sollten die Parteien gewählt werden, die dezentrale Energiekonzepte im Parteiprogramm hätten. Was einige Gäste des heißen Abends im Uhrenhaus bezweifeln: Die Parteien glaubten doch eher der „Trassenlüge“.
(Heinz Wraneschitz)

Kommentare (1)

  1. Clemens Ratte-Polle am 31.07.2017
    Es braucht keine neuen Stromtrassen für die Energiewende!
    Kohlestrom und Atomstrom verstopfen die bestehenden Leitungen, um ohne EEG-Zuschlag enorme Profite durch Stromexport für die Konzerne zu erzielen.
    Diese staatlich garantierten enormen Dividenden müssen wir Verbraucher ewig bezahlen!

    News zum Stromtrassenwahn lesen Sie hier:
    https://www.facebook.com/Stromtrassenwahn/

    Es gibt auf Facebook viele Seiten und Gruppen gegen Trassenwahn und Erdkabel.
    Hier eine Sammelliste zum Abonnieren oder öfter Reinschauen per Bookmark, womit man ganz einfach alle Postings der Anti-Stromtrassen-Seiten lesen kann, ist diese:
    https://www.facebook.com/?sk=fl_10208496871072842

    Wenn ihr da mit rein wollt, meldet euch bei obiger Seite!

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