Kultur

Reproduktionen des Dürer-Porträts von Michael Wolgemut. Hat Martin Deutinger unterschiedliche Kopien des gleichen Bildes gesammelt, um zu vergleichen, wie verschieden das Original interpretiert werden konnte? (Foto: Karin Dütsch)

17.11.2017

Manischer Bildersammler

Die grafische Sammlung Martin Deutingers im Herzoglichen Georgianum: Ein in Vergessenheit geratener Schatz

Buchliebhabern würde es den Magen umdrehen, wenn sie Martin Deutinger beobachten könnten: wie er Bilder und Texte einfach aus Büchern rausschnipselt. Für ihn war das die einzige Möglichkeit, sich am Vorabend der Fotografie eine „Datenbank“ anzulegen: Er wollte eine neue Kunst- geschichte schreiben. Im Dornröschenschlaf wartet sein Opus heute im Archiv des Herzoglichen Georgianums in München auf die wissenschaftliche Aufarbeitung. Das wäre ein Knüller, wenn das ein echter Dürer zwischen den exakt 21 296 Grafiken der Deutinger-Sammlung wäre: Täuschend echt, wie von der Hand des Nürnberger Meisters persönlich gezeichnet, sieht der Sündenfall Adam und Eva aus – das bekannte AD-Monogramm ist auch zu entdecken, daneben die Jahreszahl 1510. „Wir haben das Blatt tatsächlich von Fachleuten analysieren lassen“, erzählt Claudius Stein. Aber nur kurz blitzte die mögliche Sensation auf: „Es ist doch nur eine Kopie. Aber eine außerordentlich gute“, schiebt der Leiter des Archivs im Herzoglichen Georgianum nach. Man vermutet, dass der Kopist Johann Nepomuk Strixner (1782 bis 1855) war. Der war zu seiner Zeit recht eifrig im Kopiergeschäft unterwegs und gehörte auch zum Team um Alois Senefelder, der Dürers christliche Kunst als günstige Lithografienserie für (fast) jedermann herausgab. „Dieses Blatt hier war als qualitätsvolle Handzeichnung die Vorlage für einen Lithostein“, sagt Claudius Stein über das Ergebnis der eingeholten Expertise.

Lehrreiche Vergleiche

Der Archivar blättert weiter, legt viele Grafiken bekannter Dürer-Bilder vor: zum Beispiel einen Kupferstich mit dem Porträt von Willibald Pirckheimer, dem Nürnberger Humanisten und Dürer-Freund. In der Mappe stößt man auch auf Farblithografien mit dem Konterfei von Michael Wolgemut, dem Maler und Meister des Holzschnitts, in dessen Werkstatt Dürer in jungen Jahren gearbeitet hatte.

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Was macht ein Kunst sammelnder Priester, wenn er zwar einen kopflosen hl. Dionysius, aber keinen hl. Erhard in seinem Skulpturenarsenal hat? Ganz einfach: Er setzt dem einen den Kopf wieder auf und tauft ihn um. Andreas Schmid hat das gemacht – er wollte seinen Schülern am Herzoglichen Georgianum in München einen möglichst umfassend besetzten bayerischen Heiligenhimmel als Lehrsammlung bieten.
Lesen Sie über seine ebenso eigenwillige wie außergewöhnliche Kunstsammlung im aktuellen UNSER BAYERN, das dieser Ausgabe der Bayerischen Staatszeitung beiliegt.
http://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/unser-bayern/detailansicht-unser-bayern/artikel/lehrmuseum-fuer-kirchenschaetze.html

Interessant ist die Gegenüberstellung zweier recht unterschiedlicher Kopien des Wolgemut-Porträts durch Bartsch und Strixner: Man muss zwei Mal hinschauen, um sagen zu können, dass es sich wirklich um Kopien des gleichen Dürer-Bildes handelt – selbst die Gesichtsproportionen sind unterschiedlich. So detailliert die Farblithografie von Nepomuk Strixner das Original kopiert, so frei, fast „flach“ trotz Weißhöhungen, erscheint die Umsetzung bei Adam von Bartsch. Dabei darf man keineswegs unterstellen, dass letztgenannte Lithografie von einem Dilettanten stammt: Bartsch (1757 bis 1821) war Künstler, Skriptor der Wiener Hofbibliothek und später Kustos der dortigen Grafiksammlung und gilt als Begründer der systematisch-kritischen Grafikwissenschaft – also eine Koryphäe seiner Zeit.

Umfassende Recherche

Vielleicht hat der berühmte Münchner Theologe und Philosoph Martin Deutinger (1815 bis 1864) das Blatt bei einem seiner vielen Galeriebesuche im In- und Ausland direkt in Wien erstanden, um es bewusst zum lehrhaften Vergleich anderen Kopien des Bildes zur Seite zu stellen? Man begegnet diesem Ordnungsprinzip öfters in seiner Sammlung. Aus banaler Sammlerwut, die sich ins Manisch-Maßlose steigert, hat das Deutinger nicht gemacht. Vielmehr hat er eine gigantische Bildersammlung zusammengetragen als Studiengrundlage für eine neue Kunstgeschichte, die er schreiben wollte – ein Baustein in seinem philosophischen Bestreben, das christliche Denken auf ein neues Fundament zu stellen. Das Kunstgeschichte-Projekt blieb in den (freilich sehr weit fortgeschrittenen) Recherchearbeiten stecken – Deutinger starb mit 49 Jahren. Er wusste um sein baldiges Ableben: Einige Monate vorher hatte er testamentarisch verfügt, dass seine Bildersammlung dem Herzoglichen Georgianum in München übergeben werden sollte. Dort wird sie noch heute verwahrt und vom Universitätsarchiv betreut; das Georgianum ist eines der ältesten deutschen Priesterseminare und der Ludwig-Maximilians-Universität zugeordnet. Indes: Viele Interessenten für die Grafiksammlung finden heute nicht ihren Weg zu Claudius Stein ins Archiv des Georgianums am Professor-Huber-Platz. Das Opus wartet noch auf seine Aufarbeitung  unter kunstgeschichtlichen ebenso wie unter sammlungs- beziehungsweise wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten. Einen wichtigen Einstieg für viele Fragestellungen dazu liefert Stephan Deutinger – „weitschichtig verwandt“, sagt er über die Namensgleichheit mit der prominenten Denkerfamilie. Der Mitarbeiter in der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Akademie der Wissenschaften erschließt in seiner Freizeit die Korrespondenzen Deutingers; das Schriftgut ist in der Münchner Universitätsbibliothek zu finden. Dabei hat er auch die Bildersammlung unter die Lupe genommen und analysiert, was in ihr steckt: „Allerdings nicht nach kunstgeschichtlichen Aspekten. Ich habe vielmehr die äußere Entstehungsgeschichte der Sammlung rekonstruiert.“ (Seine Ergebnisse werden in einem Tagungsband über die LMU-Sammlungen veröffentlicht, der 2018 erscheinen wird.) 60 Kartons stehen im Archivregal – die allermeisten sind noch die Originale von Deutinger. Ihre Beschriftung spiegelt grob die drei großen Sammlungsgebiete Gemälde, Architektur und Plastik wider. Mit Letzterer hielt es der Sammler nicht so, entsprechend mager ist seine Ausbeute. „Weniger als zehn Prozent“, schätzt Stephan Deutinger, „sind Grafiken zu Skulpturen“. In jedem Karton sind ungefähr 25 Mappen, die beschriftet nach Künstlernamen, Malschulen oder anderen Schlagworten die Grafiken samt Textmaterialien enthalten – das allermeiste aufgeklebt. Nur hin und wieder sind Grafikblätter einfach eingelegt, wenn sie zu groß zum Aufkleben auf das genormte Papierformat waren. Dann wurde schon auch mal ein schönes Blatt praktisch gefaltet. Warum hat es Deutinger nicht in den Grafikschrank mit den vielen Schubladen für die großen Bilder gelegt? Brauchte er die Abbildung zu Studierzwecken unbedingt im Mappenkontext? Spekulieren kann man viel – Reflexionen über seine Sammlung sind eher spärlich, hat Stephan Deutinger bei Sichtung des schriftlichen Nachlasses beobachtet.

Tizian und Aschenputtel

„Was man jedenfalls rauslesen kann, ist, dass ihn Bilder und ihre Reproduktionsgrafiken nicht wegen ihres künstlerischen Wertes interessiert haben. Man findet selbst manchen Kitsch in der Sammlung, neben Tizian-Gemälden findet man Aschenputtel-Bilder des 19. Jahrhunderts.“ Letztlich war das auch eine Frage finanzieller Möglichkeiten: Deutinger war knapp bei Kasse, konnte sich nur wenige Künstlergrafiken leisten. Reproduktionsgrafiken dagegen waren relativ günstig – vor allem am Vorabend der Fotografie. Deutinger selbst hat sich ebenfalls an fotografischen Reproduktionen versucht, dies vielleicht des großen Aufwands und der dürftigen Ergebnisse wegen aber bald wieder sein lassen. Stephan Deutinger hat sich nicht alle über 21 000 Grafiken vorgenommen – er konnte sich auf wichtige Vorarbeiten stützen. Zum einen hat Martin Deutinger selbst eine Art Erschließungskatalog angelegt (heute in der Universitätsbibliothek): „Das sind mal kleine Hefte, mal nur Zettel. Er hat unterschiedliche Anläufe genommen, das Konvolut zu erfassen. Mal sind die Maler alphabetisch, mal chronologisch aufgeführt. Dann hat er sogar eine Art Stammbaum angelegt, der zeigen sollte, wie sich die Maler künstlerisch beerbten.“

Zu viele Nackte

Ein ganz wichtiger Schlüssel zur Deutinger-Sammlung ist heute der „Kunstcatalog des Georgianums“, den Andreas Schmid (1840 bis 1911) angelegt hat. Der legendäre Direktor des Georgianums und pädagogisch angetriebene Kunstliebhaber hat die Bildersammlung penibel nach Personen, Themen und Orten katalogisiert. Schmid selbst hatte eine große Skulpturensammlung zur christlichen Kunst in Kirchen zusammengetragen, die Grafiken passten gut zu seiner Vorstellung, dass der Priesternachwuchs gründlich die christliche Kunst zu studieren habe. Dass dann aber die wenigsten seiner Studenten tatsächlich die Nasen in die Kladden stecken durften, lag an dem, was Schmid da alles drin entdeckt und verzeichnet hatte: Viel zu viel nacktes Fleisch! Das war für Martin Deutinger noch kein Kriterium gewesen, Grafiken aus seiner Sammlung auszuschließen: Klar, dass Adam und Eva, aber auch manch anderer Heros der christlichen Kunstgeschichte nackt dargestellt werden. Aber seine Sammlung hatte Deutinger ja primär nicht für andere angelegt, sondern für eigene Studienzwecke. Wollte er vermeiden, dass Schamesröte die Wangen potenzieller Helferinnen überzog, die ihn beim Arrangement seines umfangreichen Mappenwerkes hätten unterstützen können? Ja, Martin Deutinger hatte regen Kontakt zu Damen der Münchner Gesellschaft, unter anderem zu Emilie Ringseis, deren Vater Leibarzt von Kronprinz Ludwig war. Allerdings tauschte er sich nur brieflich mit ihnen über Bilder und seine Pläne aus. „Bei seiner Arbeit an der Bildersammlung haben diese Damen ihm zweifellos nicht geholfen“, ist sich Stephan Deutinger sicher. „Vielmehr hat er das Ausschneiden, Aufkleben und Einordnen, wie er einmal ausdrücklich berichtet, als eine Art Ergotherapie betrachtet, mit der er die Pausen füllte, die er bei der Niederschrift seiner zahlreichen philosophischen Bücher angesichts selbstauferlegter, überlanger Arbeitstage zwangsläufig einlegen musste.“ Es müssen ja nicht unbedingt Frauen gewesen sein, aber dass Deutinger helfende Hände hatte, steht wiederum für Archivar Claudius Stein fest: „Die handschriftlichen Notizen bei den Grafiken stammen eindeutig nicht von Deutinger.“ Vielleicht waren es einige seiner Studenten, die das, was der Theologe bei Galeriebesuchen mit Bleistift notierte, ins Leserliche übertrugen und wahrscheinlich nach seinem Diktat inhaltlich anreicherten beziehungsweise in den Mappen den Abbildungen der beschriebenen Kunstwerke zuordneten. Das alles geschah jedenfalls in Deutingers kleiner Wohnung in Schwabing. Dort standen auch die 60 Kartons. Dank seines Testaments ging das Konvolut schon bald nach seinem Tod eine Straße weiter ins Georgianum. „Auch das macht die Sammlung so außergewöhnlich und wertvoll“, erklärt Stephan Deutinger: „Sie ist wie eine Zeitkapsel. Wir haben hier eine geschlossene Sammlung vollständig erhalten, so wie im testamentarischen Willen vorgegeben. Das ist bei privaten Lose-Blatt-Sammlungen nicht üblich. Meistens werden sie im Laufe der Jahre regelrecht ausgeschlachtet.“ (Karin Dütsch) Abbildungen:
Der eifrige Bildersammler Martin Deutinger (1815 bis 1864). (Foto: Karin Dütsch) In den Originalkartons wird Deutingers Bildersammlung im Archiv des Georgianums verwahrt. Auf den Regalen steht der Erschließungskatalog von Andreas Schmid.   (Foto: Jan Kopp) Erklärende Texte in der grafischen Sammlung fügte Deutinger aus verschiedenen Quellen zusammen und reicherte sie mit eigenen Beobachtungen, Gedanken an. (Foto: Jan Kopp) Malerisch detailreiche Kupferstiche finden sich neben vergröbernden Umrisszeichnungen zum Teil auf einer Seite montiert.   (Foto: Karin Dütsch) Das Dürer-Blatt mit dem „Sündenfall von Adam und Eva“, eine Handzeichnung, dürfte der Priesternachwuchs im Georgianum kaum zu Gesicht bekommen haben: Zu viel nacktes Fleisch, befand Direktor Schmid.     (Foto: Jan Kopp)

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