Bauen

Blick auf Le Havre. (Foto Wolfgang O. Hugo)

02.06.2017

Lebendige Stadt an der Mündung der Seine

Le Havre und Auguste Perrets Visionen einer modernen Stadt

Selbstbewusst feiert Le Havre, die Stadt an der Mündung der Seine in den Ärmelkanal, in diesem Jahr ihren 500. Geburtstag. Lange Zeit litt sie unter dem Makel, nach ihrer fast totalen Zerstörung im Sommer 1944 zu uniform und mit (zu) viel Beton wieder aufgebaut zu sein. Erst als die Unesco die Stadt mit den Bauten des Architekten Auguste Perret 2005 in die Liste des Welterbes aufnahm, entwickelten auch die Bewohner selbst ein neues Verhältnis zu ihrer Stadt mit den breiten Boulevards, der Kirche St. Joseph, die mit ihrem 109 Meter hohen Turm die Stahlbeton-Blöcke überragt.
Stararchitekt Jean Nouvel schuf im Dock-Viertel ein neues Wassersport-Zentrum und der Vulkan von Oscar Niemeyer, im Volksmund Joghurt-Becher genannt, beherbergt nach seiner Renovierung eine moderne Mediathek und eine nationale Theaterbühne. Ganz in der Nähe des Malraux-Museums „Moma“ legen immer häufiger Kreuzfahrtschiffe an. Auch erinnert man sich daran, dass Le Havre Claude Monet und andere Maler inspiriert hat und auch heute noch eine bedeutende Sammlung impressionistischer Malerei in seinen Toren beherbergt. 160 000 Einwohner zählte Le Havre zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Am 13. Juni 1940 zogen die deutschen Besatzer ein, die aus der Hafenstadt eine Festung im Rahmen des „Atlantikwalls“ machten. Die alliierte Invasion am 6. Juni 1944 fügte Le Havre wenig Schaden zu, am 12. September 1944 kapitulierte die deutsche Garnison. Doch zuvor wurde am 5./6. September das 150 Hektar große Stadtzentrum durch ein britisches Flächenbombardement praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Diese Tragödie war die größte Herausforderung für die Stadt: 5000 Einwohner wurden getötet, 10 000 Gebäude zerstört, über 80 000 Menschen obdachlos. Den Wiederaufbau von Le Havre vertraute Paris dem Architekten Auguste Perret (1874 bis 1954) an, der als Schüler von Le Corbusier auf den Baustoff Stahlbeton setzte. Gemeinsam mit seiner Equipe (Raymond Audigier, Georges Brochard, Jacques Poirrier) schuf er eine neue Stadt mit ihren breiten Boulevards, schachbrettartig angelegten Straßen, Plätzen und dem monumentalen Rathaus mit seinem 71 Meter hohen Turm. 6,24 Meter oder ein vielfaches davon ist das Maß des damals 71-jährigen Architekten für ein „Ilôt“, ein „Inselchen“, um die herum er rechteckige, praktische und gut beleuchtete Neubauwohnungen anordnete. Ein „Appartement témoin“, eine eingerichtete Wohnung, unweit des Rathauses zeigt, wie modern und praktisch seine Pläne aus den 1950er Jahren sind. Das erlebte man auch, als in den breiten, geraden Boulevards vor 2012 die Trasse der neuen, hochmodernen Straßenbahn realisiert wurde. Mit der Kirche St. Joseph wollte Perret den Opfern des Kriegs ein Denkmal setzen. Das Bauwerk vereinigt Stärke, Kraft und Eleganz: 700 Tonnen Stahl, 50 000 Tonnen Beton kulminieren in einem 107 Meter hohen Turm über dem Altarraum. Für die 2000 Quadratmeter Grundfläche der Kirche mussten wegen der hydrographischen Verhältnisse 71 Pfeiler gesetzt werden. Auch die 16 Säulen des Turms ruhen auf Betonpfosten von 1,45 Metern Durchmesser in 15 Metern Tiefe. Am 22. März 1959 wurde die Kirche übergeben. Die Hauptaltar-Weihe fand jedoch, wegen der fehlenden Innenausstattung, erst 1964 statt. Beeindruckend ist das Farbenspiel der bunten Glasfenster in der Kirche. Die 12 768 Glasfenster bedecken eine Fläche von insgesamt 378 Quadratmetern. Glasbaumeisterin Marguerite Huré (1895 bis 1967) hatte dafür antikes Glas in sieben Farben verwendet, mundgeblasen in Saint-Just-sur-Loire, unregelmäßig dick und sehr nuanciert. Am 20. März 1971 wurde André Duroméa, Widerstandskämpfer und Kommunist, zum Bürgermeister gewählt. Er blieb es länger als drei Amtszeiten bis Oktober 1994. Manchen Besuchern scheint es, dass sich die breiten Boulevards und die monumentalen Bauten wie das Rathaus an Vorbildern in der UdSSR oder im Ostblock orientieren. Aber der Wiederaufbau von Le Havre war bei Duroméas Amtsantritt abgeschlossen. Selbst das monumental-theatralische Kriegerdenkmal am Bassin du Commerce, das Vorbildern in Wolgograd nachempfunden scheint, stammt von 1924, von einem einheimischen Bildhauer und überstand das Bombeninferno des Zweiten Weltkriegs. In der Halle des Rathauses von Le Havre steht die Statue von Stadtgründer König Franz I. und auf der Wand dahinter eine Liste der Bürgermeister seit der Gründung der Stadt, „im Jahre des Heils 1517“. Damals hatte der französische König Franz I. am 7. Februar 1517 die Schaffung eines befestigten Hafens auf einem Flurstück namens „lieu de Grasse“ befohlen. Am 8. Oktober desselben Jahres hatte er die Gründungs-Charta der Stadt unterzeichnet. Vermerkt auf der Liste der Bürgermeister ist auch der gegenwärtige Amtsinhaber, Edouard Philippe. Er ist stolz darauf, dass die Stadt mit einem neuen Großen Stadion, einer modernen Straßenbahn und verbessertem Hochwasserschutz gut gerüstet für die Zukunft ist. Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung sind nicht nur Schlagworte in seinem Programm. Seit dem 12. Dezember 2012 kann man daher mit der Straßenbahn zum Strand fahren.
„Impression, soleil levant“, „Eindruck, Sonnenaufgang“ so benannte Claude Monet das Bild, das er am 13. November 1872 gegen 7.35 Uhr, wie er vermerkt, auf seiner Staffelei schuf. Dieses Gemälde sicherte dem seit 1788 bestehenden Hotel de l’Amirauté auf dem Quai de Southampton 43 in Le Havre einen bleibenden Eintrag in der Kunstgeschichte. Leider ging das Hotel mit dem Rest der Altstadt 1944 im Bombenhagel der Alliierten unter. Beim Wiederaufbau achtete man nicht auf die Bedeutung des Platzes für die Malerei – nach dem Jubiläum in diesem Jahr soll das anders werden. Aber Freunde der impressionistischen Malerei kommen in der Muma, so heißt das Malraux-Museum unweit des Strands seit seinem 50. Geburtstag, voll auf ihre Kosten. (Wolfgang O. Hugo) (Das Rathaus von Le Havre und der Vulkan von Oscar Niemeyer - Fotos: Wolfgang O. Hugo)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Sind Landesgartenschauen sinnvoll?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
X
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.