Tartu, erstmals 1030 in russischen Chroniken erwähnt, ist die zweitgrößte Stadt Estlands und die älteste im Baltikum. Viele Jahrhunderte litt Estland unter Fremdherrschaft. Daher ist es ein Anliegen, die eigene Geschichte im Stadtbild zu verdeutlichen. Die Restaurierung alter Gebäude und der Erhalt traditioneller Architektur stehen hoch im Kurs. In Tartu gehört das zu den Aufgaben von Stadtarchitekt Tõnis Arjus.
An der örtlichen Universität, der ältesten und größten Nordeuropas, sind solche Arbeiten schon erledigt. Gegründet wurde sie 1632 durch den Schwedischen König Gustav Adolf. Nach Kriegen und Zerstörungen
veranlasste der russische Zar Alexander I. im Jahr 1802 ihre Wiedergründung als deutschsprachige Kaiserliche Universität zu Dorpat, Tartus damaliger Name.
Das vom deutschbaltischen Architekten Johann Wilhelm Krause konzipierte klassizistische Hauptgebäude ist nach wie vor Estlands Stolz. Dort studieren nun rund 13 000 junge Menschen aus 90 Ländern.
Krause nutzte für weitere Universitätsbauten auch bereits Vorhandenes. Eine frühere Kaserne wurde zur Klinik umgestaltet, die Bibliothek baute er in die Domruine hinein. Eine moderne Bibliothek, entworfen von Kalju Valdre und Mart Kalling, erhielt die Uni 1982. „Als erstes Gebäude aus sowjetischer Zeit steht sie seit 2017 unter Denkmalschutz,“ betont Tõnis Arjus.
Ein echter Hingucker
Nur wenige Schritte sind es von der Universität zum Rathaus. Der fröhlich wirkende Bau, fertiggestellt 1789 nach Plänen vom Rostocker Johann Heinrich Bartholomäus Walther, ist ein echter Hingucker. Walther orientierte sich am holländischen Frühklassizismus, ebenso bei den Bauten am Rathausplatz, den die Esten gerne mit bunten Fähnchen schmücken.
In den angrenzenden Gassen fällt jedoch ein moderner Glasbau namens Kampus auf. „An einigen Stellen in der Altstadt, wo vor dem Zweiten Weltkrieg bereits Gebäude standen, dürfen sie durch moderne Bauten ersetzt werden. Vorher gibt es jedoch Architekten-Wettbewerbe. Die neuen Bauten müssen sich in der Höhe den alten anpassen und sich ins Stadtbild einfügen“, erklärt Tõnis Arjus.
„Schon lange gibt es in Tartu Architekten-Wettbewerbe, wenn ein Entwickler oder eine Behörde im Stadtzentrum ein neues Gebäude errichten möchte oder anderswo in der Stadt ein größeres Gelände bebaut
werden soll. Aufgrund dessen besitzt Tartu eine qualitätsvolle moderne Architektur, die bei der Vergabe staatlicher Architekturpreise Aufmerksamkeit erregt“, fügt Arjus hinzu.
Das beste Beispiel bietet das hochmoderne Estnische Nationalmuseum, ein Beton-Stahl-Glasbau von 2016, errichtet – auf Wunsch des Pariser Architekturbüros Dorell Ghotmeh Tane – auf dem ehemaligen sowjetischen Flugplatz. Das geneigte Dach kragt am höchsten Punkt deutlich aus, als wolle es Feinde abwehren. Zusammen mit zwei schrägen Fassadenelementen bildet es einen trichterförmigen Eingang, der die Besucher hineinsaugt in Estlands Geschichte. Für diesen Bau erhielt das Architekturbüro sofort einen Preis. Außerdem wurde dieses Museum zum besten Betongebäude Estlands gewählt.
Dennoch lieben alle die gemütliche Altstadt mit ihren traditionellen, oft farbenfrohen Holzhäusern. Für das Puppentheater mit der blau-gelben Fassade schwärmen auch Erwachsene. Noch stärker leuchtet eine rote, fein restaurierte Holzfassade. Solche Bauten zu erhalten, gehört zu Arjus’ Hauptaufgaben.
Holz und Beton
„Tartu hat seit 2001 ein System entwickelt, das die Renovierung alter Holzbauten unterstützt. Jedes Jahr steht dafür Geld zur Verfügung, das an alle Antragsteller verteilt wird“, führt er aus. Ziel sei es, den Menschen, die in historischen und denkmalgeschützten Bereichen wohnen, die Renovierung zu erleichtern. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die zahlreichen Holzhäuser in der Tähtvere Straße. „Die sind alle ziemlich alt, sogar älter als die Republik Estland. Jetzt sind sie renoviert worden, und das erhöht ihre weitere Lebensdauer.”
Doch eines macht Tõnis Arjus ebenfalls klar: „Die Stadt Tartu oder der Staat finanzieren nicht den Bau neuer Holzhäuser. Sie helfen nur bei der Verbesserung von Details. Es gibt Zuschüsse für den Fassadenschmuck sowie für den Einbau historischer Fenster und Türen oder solchen, die so aussehen.“ Diesbezüglich ist man in Tartu relativ großzügig. „Die Idee dahinter ist, einmalige Holzbauten, die die Zeiten recht gut überstanden haben, weiter zu erhalten“, ergänzt Arjus. Manchmal werde Tartu sogar als „die kleine hölzerne Stadt“ bezeichnet, obwohl sie ebenso für ihre schönen Bauten im klassischen Stil berühmt ist.
Doch wie ist es heutzutage um das Know-how bei der Errichtung von Holzbauten bestellt? „Das Wissen der Handwerker über Holz als Baumaterial war in den Zeiten, als diese Holzhäuser errichtet wurden, außergewöhnlich hoch. Mit dem Ergebnis, dass sie noch immer großartig intakt sind, wenn sie von den Bewohnern gepflegt wurden“, weiß der Stadtarchitekt. Auch weitere Aspekte sprechen für Holzhäuser: „Ihr Raumklima ist während des ganzen Jahres gut, da Holz einen natürlichen Luftaustausch erlaubt.“ Andererseits gönnt Tartu den Bewohnern alter Holzhäuser durchaus heutigen Komfort. „Während der Renovierung ist es erlaubt, die Isolierung zu verbessern und moderne Heizungen einzubauen.“ Heutzutage gäbe es viel Know-how, so Arjus, wie sich das bei Erhalt der traditionellen Fassade erreichen lässt.
Außerdem gäbe es in Tartu einige Firmen, die die Eigentümer beraten, wie selbst ein historisches Gebäude mit traditionellen Methoden gegen Kälte geschützt werden kann. Daher hofft er, dass sich der Trend zum Bauen von Holzhäusern verstärkt. „Holz ist unser eigentliches und umweltfreundliches Baumaterial“, betont er. Tatsache sei andererseits, dass bei Neubauten der Beton dominiert. „Wenn aber neue Betonbauten in Gegenden errichtet werden, in denen Holzhäuser vorherrschen, erhalten sie Holzfassaden, damit sie sich diesem Umfeld anpassen.“ Es geht halt vor allem um ein attraktives und historisch stimmiges Stadtbild.
Domruine bleibt wie sie ist
Auch um die gotischen Kirchen, ein wertvolles Architektur- und Kulturerbe, muss sich der Stadtarchitekt kümmern. Was wird aus der Ruine des im 13. Jahrhundert gegründeten Backsteindoms? Der wurde ein Opfer der Reformation und von Kriegen, beeindruckt in seiner machtvollen Architektur jedoch nach wie vor. „Die Domruine bleibt so, wie sie es jetzt ist, halb Museum, halb Kirche. Ihre Mauern erzählen deutlich von ihrer langen Geschichte und sind überdies ein schöner Platz für unterschiedliche Veranstaltungen,“ sagt Arjus.
Keine Sorgen mehr bereitet ihm die Johanniskirche aus dem 14. Jahrhundert, die wieder ein Gotteshaus ist. Durch Bomben wurde sie 1944 zerstört und erst 1989 – vor allem mit Spenden norddeutscher protestantischer Gemeinden und der Stadt Lüneburg – wieder aufgebaut. Sie ist der nordöstlichste Punkt auf der Europäischen Route der Backsteingotik. Erhalten geblieben sind rund 1000 ihrer 700 Jahre alten Terrakotta-Skulpturen, ein einmaliger Schatz. Sie zieren die Giebel und die Fassade, viele sind auch in der Kirche aufgereiht und faszinieren mit ihren lebensechten Gesichtern.
Die Aufmerksamkeit des Stadtarchitekten gilt nun der Marienkirche. „In der offiziell atheistischen Sowjetunion wurden einige Kirchen zu anderen Zwecken genutzt. Das war bei der Marienkirche der Fall, die zur Sporthalle umfunktioniert wurde. Die Restaurierung solch wichtiger Bauten geschieht unter Mitwirkung der Denkmalschutzbehörde, auf Estnisch Muinsuskaitseamet.” Der hölzerne Bodenbelag für die Sportler sei bereits entfernt. „Bald wird sie wieder eine Kirche sein”, freut sich Tõnis Arjus, Tartus vielbeschäftigter Stadtarchitekt. (Ursula Wiegand)
(Das Rathaus und die Universitätsbibliothek. Ein altes Holzhaus wird gerade renoviert - Fotos: Ursula Wiegand)
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