Beruf & Karriere

Ein taktiler Bildschirm zeigt Sehbehinderten digitale Inhalte. Die Technologie soll die Arbeitslosigkeit unter Sehbehinderten verringern. (Fotos: investEU)

22.03.2019

"Blinde an der digitalen Revolution beteiligen"

Der Nürnberger Gründer Klaus-Peter Hars über die hohe Arbeitslosenquote von Sehbehinderten und wie sein Start-up dagegen ankämpft

Zwei Nürnberger Brüder haben die Firma Inventivio gegründet. Ihr Ziel: 88 000 blinde Menschen mithilfe des Tactonom in eine Anstellung zu bringen. Auf die Idee kamen sie durch ihre blinde Großmutter. Zum zehnjährigen Jubiläum der UN-Behindertenrechtskonvention soll die Technologie auf den Markt kommen.

BSZ: Herr Hars, was verbirgt sich hinter Tactonom?
Klaus-Peter Hars: Der Name setzt sich aus den Wörtern „tactil“ und „autonom“ zusammen. Auf einer DIN A4 großen Tastfläche sind über 10 500 Tastpunkte eingelassen, mit denen der blinde Nutzer jegliche Information ertasten kann. Verbunden mit einem Computer erfüllt der Tactonom den gleichen Zweck wie ein Bildschirm für sehende Menschen. Mit einer leistungsstarken Software werden digitale Inhalte automatisch in Braille und erfassbare Grafiken übersetzt und angezeigt. Die eingebaute Kamera ermöglicht außerdem die Aufnahme von papierbasierten Informationen wie Briefen. Diese Informationen werden automatisch in Braille umgewandelt und angezeigt.

BSZ: Aber es gibt doch bereits Ausgabetechnologien für Blinde beziehungsweise Sehbehinderte.
Hars: Blinde Menschen können sich Inhalte am Computer vorlesen lassen oder mit einzeiligen Ausgabegeräten Texte mithilfe der Brailleschrift ertasten. Beide Technologien funktionieren gut für Texte. Allerdings sind sie unzureichend für Grafiken, Tabellen, Webseiten, Diagramme, technische Zeichnungen, mathematische Formeln und Funktionen, Stadtpläne, Icons, Grundrisse und viele weitere Informationsarten, mit denen sehende Menschen ständig umgehen. Damit sind blinde Menschen von vielen Informationen abgeschnitten und laufen Gefahr, von der digitalen Revolution abgehängt zu werden.    

BSZ: Welche Jobchancen haben blinde Menschen?
Hars: Rund 75 Prozent von ihnen in Europa sind arbeitslos. Der Grund dafür ist, dass sie aufgrund fehlender Ausgabetechnologien nicht selbstständig auf alle Informationen zugreifen können. Das schränkt ihre Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsplatz massiv ein und führt dazu, dass auch sehr erfolgreiche Menschen nach ihrer Erblindung nie wieder einen Job finden. Mit dem Tactonom wollen wir die Regel „blind gleich arbeitslos“ durchbrechen.

BSZ: Was hat es mit dem KMU-Instrument auf sich?
Hars: Um den Tactonom erfolgreich in Deutschland und Europa vermarkten zu können, benötigen wir detaillierte Informationen darüber, wie die Inklusion blinder Menschen in den einzelnen Ländern umgesetzt wird und wie die jeweiligen Märkte aufgebaut sind. Dazu müssen wir eine Marktstudie unserer Zielmärkte durchführen. Dabei unterstützt uns die EU mit 50 000 Euro aus ihrem Förderprogramm für kleine und mittlere Unternehmen des Programms „Horizont 2020“. Für uns ist die Finanzierung durch das KMU-Instrument immens wichtig, weil sie unseren Markteintritt in Europa deutlich beschleunigt. Sie gibt uns die nötigen Ressourcen, um unsere Zielmärkte zu analysieren und die jeweiligen regulatorischen Rahmenbedingungen besser zu verstehen.   

"Win-Win-Win-Win Situation für blinde Menschen, Unternehmen, die Gesellschaft und die öffentliche Hand"

BSZ: Wie sollen verschiedene gesellschaftliche Player vom Tactonom profitieren?
Hars: Mit dem Tactonom können wir eine „Win-Win-Win-Win“ Situation für blinde Menschen, Unternehmen, die Gesellschaft und die öffentliche Hand erreichen. Denn blinden Menschen eröffnet der Tactonom durch selbstständigeres Arbeiten eine berufliche Perspektive, wodurch Unternehmen nicht wertvolles Wissen und Talente verlieren. Die Gesellschaft gewinnt durch echte Teilhabe blinder Menschen am gesellschaftlichen Leben und die öffentliche Hand wird finanziell entlastet, da der blinde Mensch finanziell unabhängiger ist.   

BSZ: Wie lange dauerte die Entwicklung des Tactonom Touch-Pads insgesamt?
Hars: Erste Ideen für ein Blindendisplay entstanden zwischen mir und meinem Bruder schon 2011. Seitdem haben wir zwölf Prototypen erstellt und stehen nun kurz vor der Marktreife. Bei dem Tactonom handelt es sich übrigens nicht um ein „Touch-Pad“ im Sinne eines mobilen Geräts, sondern um ein klassisches Desktop-Gerät.   

BSZ: Wie viele Menschen haben an der Entwicklung gearbeitet?
Hars: In der Anfangsphase haben zwei Personen an dem Tactonom gearbeitet. Im Lauf der Zeit kamen aber eine Vielzahl an externen Konstrukteuren, Wissenschaftlern und Beratern hinzu. Ebenfalls haben seit 2016 zwei Programmierer in Vollzeit an der Software hinter dem Tactonom gearbeitet.
   
BSZ: Wie reagieren blinde Menschen, wenn sie die Technologie zum ersten Mal ausprobieren?
Hars: Überrascht. Und mit einer deutlich erkennbaren Freude am Entdecken. Der Umgang mit dem Gerät ist intuitiv und bereitet keine Schwierigkeiten. Allerdings kommt es bei dem Erkennen von Inhalten einerseits darauf an, ob der Nutzer geburtsblind oder späterblindet ist. Späterblindete Menschen haben zumeist eine visuelle Vorstellung von Formen und Strukturen, die sie ertasten. Das hilft bei dem Erkennen von Inhalten. Geburtsblinde haben diese Vorstellung zum Teil auch, aber nicht immer.

BSZ: Spielt nicht auch die Erfahrung im Ertasten von Inhalten eine wichtige Rolle?
Hars: Ja. Wer noch nie einen Grundriss ertastet hat, wird sich beim ersten Mal schwer damit tun. Da sich Inhalte nicht immer aus Ihrer Form erschließen lassen, verfügt der Tactonom über eine Kamera, die die Position der Finger erkennt. Diese Fingererkennung nutzen wir dazu, Audioinformationen, die wir an bestimmten Positionen eines zu ertastenden Objekts hinterlegt haben, auszulesen, wenn der Zeigefinger diese Position erreicht. Wenn der Finger zum Beispiel auf einer Weltkarte über Deutschland steht, würde der Tactonom mitteilen, dass es sich hier um Deutschland handelt. Damit können wir blinden Menschen auch komplexe Inhalte zugänglich machen.

BSZ: Müssen blinde Menschen lange üben, um das Tactonom richtig bedienen zu können?
Hars: Bisher haben wir noch keine Erfahrungswerte, wie lange ein blinder Mensch üben muss, um Grafiken gut zu erkennen. Wir haben aber bei den vielen Menschen, die den Tactonom bereits ausprobiert haben den Eindruck, dass dies häufig sofort geht. Und ein Gewöhnungseffekt wird sich unserer Meinung nach eher in Stunden als in Tagen einstellen.

BSZ: Können Sie schätzen, wie viele blinde Menschen durch Ihre Technologie einen Job finden könnten?
Hars: Unser Ziel ist es, die Arbeitslosigkeit blinder Menschen in Europa innerhalb von zehn Jahren um zehn Prozent zu verringern. Das bedeutet, dass von den 876 000 blinden Menschen im arbeitsfähigen Alter in Europa, von denen heute mehr als 70 Prozent arbeitslos sind, 87 600 Menschen dadurch eine Anstellung finden sollen, dass sie selbstständiger und unabhängiger auf Informationen zugreifen und verarbeiten können. Dies hat einerseits zur Folge, dass blinde Menschen in neuen Jobprofilen arbeiten können und andererseits auch produktiver im Arbeitsleben sind. (Interview: BSZ)

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