1981 startete im Freistaat das landesweite Programm zur Dorferneuerung. Der damals dafür zuständige leitende Ministerialbeamte und spätere TUM-Professor Holger Magel und der frühere Weyarner Bürgermeister Michael Pelzer erinnern sich an anfänglich jede Menge Skepsis, Neid und Eifersucht bei den beteiligten Akteuren.
BSZ Herr Magel, Herr Pelzer, was waren vor Beginn des Dorferneuerungsprogramms die wichtigsten Herausforderungen der Kommunen im Freistaat?
Holger Magel Der Wunsch nach Erhöhung des Lebensstandards in der Bewältigung des landwirtschaftlichen Strukturwandels in den Dörfern und in der Umsetzung der Gebietsreform. Die als rückständig geltende deutsche Landwirtschaft musste im Zuge der europäischen Agrarpolitik modernisiert, vergrößert und spezialisiert werden. All das hatte bauliche bodenordnerische, gestalterische und verkehrliche Auswirkungen auf Dorfstrukturen und Ortsbilder.
BSZ Geht es dem Dorf heute insgesamt besser?
Magel Nun ja. Die hinsichtlich eines besseren Verwaltungs- und Finanzmanagements gemeinte Gebietsreform hat auf der anderen Seite auch eine Demütigung der ihrer Selbstständigkeit beraubten kleineren Landgemeinden und Dörfer hinterlassen. Der Dorfforscher Gerhard Henkel schrieb kürzlich in der Welt: Politik hat das Dorf entmündigt, entmachtet und geschwächt. Inzwischen zeigen Studien, dass die Gebietsreformen keine finanziellen Einsparungen, aber verheerende demokratische, kulturelle und soziale Verluste verursacht haben und weiter verursachen“.
BSZ Kamen Idee und Konzept damals primär aus der Wissenschaft und der Ministerialbürokratie – oder hatte eher die Politik die Initialzündung?
Magel Ideen und Konzepte zur Dorferneuerung kamen nach dem Zweiten Weltkrieg von allen Seiten: von der Bundespolitik, die ja schon 1962 entsprechende Modellvorhaben gestartet hatte; aus der Wissenschaft und von den Landwirtschafts- und Flurbereinigungsverwaltungen. Die Geschichte der Dorferneuerung wäre womöglich ganz anders verlaufen, wenn man beim ersten Städtebauförderungsprogramm 1971 auch die Dörfer – wie im Gesetz vorgesehen – bedacht hätte. Das war bis auf einige Feigenblätter nicht der Fall. Deshalb gab es dann fünf Jahre später – als Art Retourkutsche – eine eigene entsprechende Aufgabe im deutschen Flurbereinigungsgesetz als Parallelweg und -förderung.
BSZ Welche organisatorischen Hürden galt es zu bewältigen?
Magel Es waren weniger organisatorische Hürden zu bewältigen, da die Flurbereinigungsbehörden ja immer schon direkten Zugang zu den Dörfern, ihren Gremien und Grundstückseigentümern hatten und auch das Wissen über die Strukturmängel. Die größte Hürde neben der Auswahl der Dörfer mithilfe der sogenannten Groborientierung sowie der Suche nach geeigneten Architekten und Planern und Erarbeitung von Richtlinien und Leitfäden war aber, alle anderen Behörden als Partner und unverzichtbare Akteure beim Gemeinschaftswerk Dorferneuerung zu gewinnen. Denn Dorferneuerung ist ganzheitlich und querschnittsorientiert – da sollten alle Behörden und Disziplinen mitmachen und ihren Beitrag leisten. Ich gebe zu, dass das am Anfang nicht ganz einfach war. Es gab leider viel Neid und Eifersucht.
BSZ Rannte man bei den Bürgermeistern eher offene Türen ein – oder verhielten die sich eher abwartend bis skeptisch?
Michael Pelzer Damals gab es die ganzheitliche Dorferneuerung, die eine Ortschaft oder die ganze Gemeinde (wie bei uns) umfasste. Da war es so: Ganz zu Anfang stand ein Antrag (1991). Das heißt, die Schilderung, warum Handlungsbedarf in der eigenen Gemeinde besteht. Wenn ich ihn heute lese, war er noch recht eindimensional. Dann hat das Amt für Ländliche Entwicklung (ALE) zu einer Behördenbesprechung vieler Behörden (Bauamt, Umweltamt, Sozialamt) eingeladen. Da wurde der Handlungsbedarf aus unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen besprochen. Dann teilte das ALE mir mit, dass wir 1994 mit der Anordnung der Dorferneuerung rechnen könnten. Das war mir zu spät.
BSZ Wie haben Sie reagiert?
Pelzer Ich bin dem ALE dann wohl so auf die Nerven gegangen, dass die Anordnung auf 1992 vorgezogen wurde. Ein begleitender Dorfplaner wurde vom Gemeinderat ausgesucht. Ein Mitarbeiter des ALE wurde zum Vorsitzenden der Teilnehmergemeinschaft (alle Grundstückseigentümer in der Gemeinde) bestellt. Er und der begleitende Dorfplaner waren die Moderatoren eines langen Prozesses. Wir beriefen Ortschaftsversammlungen ein. Dort gründeten sich die ersten Arbeitskreise. Mit diesen gab es eine eineinhalbjährige Bestandsaufnahme. Die gab die Sicht auf Potenziale und Chancen frei und förderte damit das Selbstbewusstsein. Daraus entstand – wieder unter großer Bürgerbeteiligung – ein Leitbild. Ein Leitbildheft mit allen Teil-Leitbildern ging an jeden Haushalt. Und schließlich wurde daraus ein Dorferneuerungsplan erarbeitet, mit Maßnahmen, die seriös mit Kostenschätzungen und Priorisierungen hinterlegt waren. Das alles fand auf offener Bühne statt, begleitet von Presse, Gemeindeblatt, Ortschafts- und Bürgerversammlungen, grundsätzlich öffentlich angekündigten und öffentlichen Arbeitskreissitzungen.
BSZ Sehen Sie Unterschiede zu heutigen Vorgehensweisen?
Pelzer Heute gibt es diese ganzheitliche Dorferneuerung – in veränderter Ablaufform und verschiedenen Kooperationsformaten – auch noch. Es gibt aber auch die sogenannte einfache Dorferneuerung – eine rein pojektbezogene, wie zum Beispiel die Gestaltung eines Dorfplatzes. Ich bleibe ein Anhänger der ganzheitlichen Dorferneuerung, die tatsächlich das Ziel umsetzt: Stärkung des ländlichen Raums. Die einfache Dorferneuerung war der Popularitätssehnsucht der Politik geschuldet – für clevere Bürgermeister aber durchaus eine Hilfestellung.
BSZ Das Dorferneuerungsprogramm startete ja ungefähr, als die Kommunalgebietsreform abgeschlossen war: Sollten damit auch Wunden versorgt werden, die bei vielen Orten durch den Verlust der Eigenständigkeit geschlagen worden waren?
Magel Die Wunden der Gebietsreform zu heilen war kein explizites Ziel der Dorferneuerung – denn dann hätte ja die Politik Fehler zugegeben. Tatsache ist aber, dass die Dorferneuerung mit ihrem partizipatorischen Prozess und der eigens gebildeten Teilnehmergemeinschaft nach dem Flurbereinigungsgesetz Entscheidungsbefugnisse und Selbstbewusstsein in das Dorf zurückbrachte. Schliesslich gab es sogar Dörfer, die – gestärkt durch die Dorferneuerung – ihre politische Selbstständigkeit zurückerkämpften.
BSZ Heute klagen viele Bürgermeister, es gäbe zwar jede Menge Förderprogramme – aber die bürokratischen Formalien beim Antrag seien so komplex, dass es eher abschreckt: War das damals leichter?
Pelzer Das Dorferneuerungsprogramm ist weder bürokratisch noch sind die zu beachtenden Formalien problematisch. Sicher macht es Arbeit. Aber das, was da verlangt wird, gehört zum Handwerkszeug einer Kommune. Es gibt andere Förderprogramme (ich denke: zu viele), die ein großes Misstrauen der Entwerfer atmen oder vielleicht auch nur die Angst, Fehler zu machen, die dann wiederum von Prüfungsstellen auf sie zurückfallen. Das führt dann zuweilen dazu, dass der Sinn der Förderung nicht mehr sichtbar ist und dass insbesondere Menschen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft damit von Eigeninitiative abgeschreckt werden. Wir spüren in der jetzigen Pandemie deutlich, wie die Fehlervermeidungsstrategien der Verwaltungen uns hindern, resilient gegenüber Krisen und Herausforderungen zu handeln.
BSZ Wie nahm die Bevölkerung das Ganze auf: Musste da seitens der Bürgermeister viel Überzeugungsarbeit geleistet werden?
Pelzer Natürlich wird alles Neue erst mal vorsichtig beäugt. Und ganzheitliche Dorferneuerung mit umfassender Bürgerbeteiligung und vernetzten Sichtweisen ist eine andere Art von Politik als die häufig lineare und von gewählten Entscheidungsträgern dominierte. Gerade Bürgerbeteiligung, die ja das wesentliche Fundament für eine akzeptierte und damit gelingende Dorferneuerung ist, sind viele nicht gewohnt. Entscheidend ist, wie die umfassende Evaluationsstudie der Bertelsmann-Stiftung Partizipation im Wandel von 2014 nachweist, ob die Bürgerbeteiligung seitens der Entscheidungsträger (Bürgermeister und Gemeinderat und Verwaltung) ernst genommen wird. Wenn deutlich wird, dass Bürgerbeteiligung nicht nur gesagt wird sondern konsequent professionell begleitet und ergebnisoffen gelebt wird – dann gibt es erstaunlich viele, die mitmachen, ihr Wissen und ihre Kompetenzen einbringen, und es gibt noch mehr, die das zumindest gut finden. Das steckt dann an. Bürgerbeteiligung kann so zur Selbstverständlichkeit im Leben einer Kommune werden. So war es auch nur folgerichtig, dass sie bei uns in einer Satzung der Gemeinde und in einem Mitmachamt mündete.
BSZ Warum hat man sich eigentlich von einem eingängigen Slogan wie „Unser Dorf soll schöner werden“ verabschiedet – das versteht doch sofort jeder?
Magel Da reden wir über zwei völlig verschiedene Bewegungen: hier der vom Mainau-Grafen Bernadotte 1961 ins Leben gerufene Bürgerwettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“, der vielfach missverstanden zu reiner Kosmetik und zum geschmähten sogenannten Blümchenwettbewerb führte und deshalb umgetauft wurde in „Unser Dorf hat Zukunft“; dort die behördlich geleitete umfassende und fachlich tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Dorf und seinen benachbarten Siedlungen und Landschaften. Da geht es nicht ums Schönerwerden, sondern um nachhaltige und gleichwertige Lebensbedingungen. Dies ist eine herausfordernde Aufgabe. Die sogenannten einfachen Dorferneuerungen mit weniger Tiefgang sollten deshalb eine absolute gut begründete Ausnahme sein.
Pelzer Eine kleine Ergänzung von mir als ehemaliger Vorsitzender der Wettbewerbsjury: Der ursprüngliche Titel war Anfang der 1960er-Jahre sicher der richtige Ansatz: Aus der Überlebensstrategie nach dem Krieg durch Schönheitsstreben das Selbstbewusstsein der Dörfer zu stärken. Denn: Nur selbstbewusste Bewohner schaffen eine gute Zukunft. Und Selbstbewusstsein bekommt man nur, wenn man sich auch mag. Das wird durch äußere Schönheit erleichtert. Mit der Zeit hat sich allerdings der Wettbewerb zu stark in Richtung Gartenschau entwickelt und verengt. In der öffentlichen Diskussion wurde der Wettbewerb verspottet. So ungerecht das war, so klar war aber, dass ökonomische und andere Entwicklungsaspekte einer Gemeinde in diesem Wettbewerb zu kurz kamen.
BSZ Inwieweit unterscheiden sich die aktuellen Aufgaben des Programms von den damaligen, was werden die Schwerpunkte der Zukunft sein?
Magel Dass sich die Aufgaben in 40 Jahren gewandelt haben, liegt auf der Hand – ebenso die Schäden, die dem Dorf im Laufe der Jahre durch Funktionalreformen oder wirtschaftliche Konzentrations- und Rückzugsprozesse zugefügt wurden. Die gilt es nun wieder einigermaßen zu beheben. Dazu wird viel getan. Die Stichworte sind in aller Munde: Innenentwicklung statt Aussenentwicklung, Förderung erneuerbarer Energien, neuer flächensparender und CO2-neutraler Wohnformen für alle Generationen, Stärkung lokaler Unternehmer und der Nahversorgung.
BSZ Hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Dörfer ?
Magel Wenn wir den pandemiebedingten Trend für den ländlichen Raum und den Umzug junger Familien in Dorf und Kleinstadt dauerhaft nutzen wollen, dann müssen wir schleunigst und mit aller Kraft die Dörfer zukunftstauglich machen: Das heißt, es muss einfach passen bei Mobilität, Digitalisierung, Wohnen, Bilden, Versorgen, Gesundheit und Pflege sowie Arbeiten. Die schöne Landschaft und die heile Natur allein können es nicht richten – auch nicht noch so viel Geld. Wir brauchen risikobereite Bürgermeister – und Bürger, Behörden und Unternehmen mit neuen Ideen und Konzepten und dem motivierenden Wissen, dass die Zukunft im ländlichen Raum liegt und weniger in der Stadt, wie uns das UN-Behörden weismachen wollen. Weyarn und andere Pioniergemeinden der Dorferneuerung machen uns hier Mut!
(Interview: André Paul)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!