Kommunales

In der Stadtbücherei im oberbayerischen Kolbermoor kursierten unlängst viele historische Rückblicke. Gut 40 Leute – meist ältere Menschen – saßen an diesem Abend zusammen, erzählten von ihrer Kindheit, von ihren Erinnerungen und vom Leben ihrer Eltern und Großeltern. (Foto: Weindl)

09.06.2023

Die Welt von früher kennenlernen

In immer mehr bayerischen Kommunen gibt es Erzählcafés

Regionalität ist keine neue Erfindung. Das gab es in der bayerischen Provinz auch schon vor 100 Jahren. Ein Wirtshaus hatte fast jedes Dorf, und der Stammtisch war eine feste Einrichtung. Dazu gehörten auch viele Geschichten und Anekdoten.

In der Stadtbücherei im oberbayerischen Kolbermoor kursierten unlängst viele historische Rückblicke. Gut 40 Leute saßen an diesem Abend zusammen, erzählten von ihrer Kindheit, von ihren Erinnerungen und vom Leben ihrer Eltern und Großeltern – mit und ohne Wirtshaus: etwa von dem Lokal, in dem das Bier aus München ausgeschenkt wurde – was damals undenkbar war, weil in fast jedem Dorf das eigene Bier gebraut wurde.

Erzählt wurde von dem rustikalen Wirt, der gerne hingelangt hat, wenn jemand nicht seiner Meinung war und der parallel zum Ausschank „draußen im Torfabbaugebiet ein kleines Bordell“ betrieben hatte. Und berichtet wurde von den ersten italienischen und griechischen Lokalen in den Nachkriegsjahren, die mit ihrer innigen Gastfreundschaft schon etwas gewöhnungsbedürftig waren für die Kolbermoorer Bevölkerung. Die „gute oide Zeit“ halt.


Erinnerungen an die „guade oide Zeit“

Das Erzählcafé ist in der Kleinstadt bei Rosenheim eine feste Institution. Bereits im vergangenen Herbst gab es ein solches Erzählcafé, wo es auch um die alten Wirtshäuser ging und das mit knapp 60 Leuten gut besucht war. „Die Erzählcafés sind eine Erfolgsgeschichte geworden“, sagt Christian Poitsch, Organisator und Leiter des Stadtmarketings in Kolbermoor.

Angefangen hatte es mit einer Veranstaltung zum 90-jährigen Jubiläum der Musikschule, dann gab es ein Projekt, bei dem Enkel von Gastarbeitern ihre Großeltern interviewten. In Planung ist derzeit eine Ausgabe über verschwundene Sportarten. „Wichtig sind Themen, die im Erinnerungszeitraum der Teilnehmer liegen und wo noch persönliche Erlebnisse der Leute vorhanden sind“, resümiert Christian Poitsch.

Erzählcafés sind dabei ein lebendiges Gegenstück zur digitalen Kommunikation in den sozialen Netzen. Menschen treffen sich persönlich, sitzen zusammen und erzählen Geschichten, tauschen persönliche Erinnerungen aus. In Bayern gibt es mittlerweile Erzählcafés in vielen Gemeinden, in Großstädten ebenso wie auf dem Land. Ein prominentes Projekt war das Erzählcafé im Münchner Stadtmuseum zum 50-jährigen Jubiläum der Olympischen Sommerspiele in München 1972. Da gab es nicht nur viel zu erzählen sondern auch Etliches zu sehen. Das Stadtmuseum sorgte mit einem Aufruf, Souvenirs mitzubringen, für entsprechende Exponate – vom Hostessendirndl über Anstecknadeln und Gedenkmünzen bis zur kuriosen Zündholzschachtel. Auf der war eine Kuh abgebildet, deren Euter die fünf olympischen Ringe bildeten.

 

Konzept wurde überarbeitet


Mittlerweile wurde das Konzept überarbeitet; man sieht es im Stadtmuseum nun als Mischung aus Erzählcafé und Schreibwerkstatt, wo auch Geschichten gesammelt und dokumentiert werden, erläutert Andrea Engl von der Direktion des Stadtmuseums.

Nostalgie spielt bei den Erzählcafés natürlich eine große Rolle. Entsprechend sind es auch vor allem ältere Leute, die bei diesen Veranstaltungen dabei sind. In Lenggries ging es zum Beispiel um eine vor 40 Jahren ungemein erfolgreiche TV-Sendung namens Was bin ich – die jungen Leuten heute allerdings kaum mehr bekannt sein dürfte. Bei dem Treffen erzählte Jutta Lamprecht, einst Assistentin von Robert Lembke, dem Moderator der Quizsendung, von den vielen Erlebnissen und Anekdoten mit berühmten und weniger berühmten Gästen.

In Ingolstadt wendet man sich mit Erzählcafés gleich gezielt an ältere Bürger*innen. In den beiden historischen Gebäuden Alte Post und Neubürger Kasten – die zum Bundesmodellprogramm der Mehrgenerationshäuser gehören –, finden regelmäßig seit Jahren Erzählcafés statt. Bei denen können Senior*innen über Patenschaften für Schulkinder oder als Leihomas und -opas ihre Erfahrungen an die jüngere Generation weitergeben.

In Gemünden am Main steht mittlerweile jeden Monat ein Erzählcafé auf dem Programm. Veranstalter ist der hiesige Vereinsring Adelsberg e.V. Im Clubraum der Adolphsbühlhalle trifft man sich zu Kaffee und Kuchen, zum Plaudern, Stricken und Kartenspielen. „Wöis fröiher woar“ ist das Motto des Erzählcafés im Kulturhaus Dietfurt in der Oberpfalz. Ein Angebot speziell für Menschen ab 60 Jahren, die sich bei Kaffee und Kuchen treffen und unterhalten.


Sozialkontakte nach Corona neu beleben


 Gerade nach Corona übernehmen die Erzählcafés eine wertvolle Rolle bei der Wiederbeschaffung verloren gegangener Sozialkontakte. Im bayerischen Familien- und Sozialministerium ordnet man den Erzählcafés eine wichtige Funktion bei der Seniorenarbeit zu. „Sie eignen sich wunderbar, um generationenübergreifende Begegnungen zu ermöglichen.
Verschiedene Formen der Erzählcafés haben sich auch in der Integrationsarbeit bestens bewährt,“ heißt es aus dem Haus von Ressortchefin Ulrike Scharf (CSU). So gibt es zum Beispiel ein Angebot mit dem Titel Weltreise im Wohnzimmer“, bei dem Zugewanderte ihre Wohnzimmer für Einheimische öffnen und für bis zu zehn Gästen von ihrer Familie und ihrem Geburtsland erzählen.

Seitens des Sozialministerium gibt es keine Beteiligung an der Organisation von Erzählcafés; das ist üblicherweise Sache lokaler Institutionen. Dazu gehören beispielsweise Erzähl mal – in Geschichten um die Welt der Carithek in Bamberg und Erzähl mir was…! –interkulturelle und generationenübergreifende Erzählstunden in Kindertagesstätten der Freiwilligenagentur Landshut. „Gerade nach den kräftezehrenden Jahren der Pandemie sind die Erzählcafés eine echte Bereicherung, ein idealer Begegnungsort, an dem sich alle Generationen und Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen austauschen“, lobt Ulrike Scharf die Erzählcafés. (Georg Weindl)

 

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