Wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind viele Menschen auf der Flucht aus dem osteuropäischen Land. Unter ihnen sind auch ukrainische Roma. Die BSZ berichtete vor Kurzem über den Vorwurf des Sozialbetrugs gegen diese Geflüchteten, den einige Vertretende bayerischer Landkreise erheben. Dem widerspricht der Vorsitzende des Verbands Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Bayern, Erich Schneeberger.
BSZ: Herr Schneeberger, wie werden die geflüchteten ukrainischen Roma behandelt, die in Bayern Schutz vor dem russischen Angriffskrieg suchen?
Erich Schneeberger: Berichte aus verschiedenen bayerischen Landkreisen beziehungsweise Kommunen geben Anlass zur Sorge, dass es eine Ungleichbehandlung von geflüchteten ukrainischen Roma beziehungsweise von Menschen, die als Roma wahrgenommen werden, gibt. Bis heute wird ihnen oft kein gleichberechtigter Zugang zu Wohnraum, zu Bildung, zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten und zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Vermutlich ist es nicht zu weit gegriffen zu sagen, Roma seien sowohl Ukrainer*innen zweiter Klasse als auch Geflüchtete zweiter Klasse.
BSZ: Aber diese Hilfe steht doch hierzulande allen zu, die aus der Ukraine flüchten?
Schneeberger: Im Prinzip schon, aber ukrainische Geflüchtete, die als Roma wahrgenommen werden, erfahren in Bayern unterschiedliche Formen von Antiziganismus. So müssen als Roma wahrgenommene Geflüchtete in einigen Landkreisen zusätzlich zu ihrem Passdokument weitere Nachweise zum Beleg ihrer ukrainischen Herkunft beibringen. Eine derartige Praxis trifft die der Mehrheitsbevölkerung angehörenden Ukrainer*innen nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß.
BSZ: Warum ist das so?
Schneeberger: Weil gerade auf kommunaler Ebene die Echtheit der ukrainischen Pässe bezweifelt wird. Die dem Landesverband vorliegenden Informationen weisen darauf hin, dass diese verschärfte Nachweispflicht häufig antiziganistisch begründet wird, indem man auf das gängige Vorurteil der angeblichen Ausnutzung des Sozialsystems durch Roma zurückgreift. Oft wird auch pauschal unterstellt, dass ungarischsprachige Roma aus der Westukraine keine „echten“ Kriegsgeflüchteten seien. Nun wissen wir aber, dass der jahrhundertelange Antiziganismus zu Diskriminierung, gesellschaftlichem Ausschluss und Segregation geführt hat.
BSZ: Welche Folgen hat das für die Betroffenen?
Schneeberger: Dies hatte nicht nur schlechtere Bildungschancen und Möglichkeiten der Teilhabe am Arbeits- und Wohnungsmarkt zur Folge, sondern auch, dass viele Siedlungen der Roma informell sind, dass es dort also keine Infrastruktur gibt und die Bewohner keine Meldeadresse haben. Viele Roma in der Ukraine verfügten daher auch über keinerlei Dokumente, und das hat sich über Generationen hinweg fortgesetzt.
Große ungarischsprachige Minderheit
BSZ: Wieso haben diese Menschen jetzt Pässe?
Schneeberger: Die ukrainischen Behörden haben jetzt anscheinend verstärkt Dokumente ausgestellt. Wir dürfen nicht vergessen, dass in den Jahren vor dem russischen Angriffskrieg Roma in der Ukraine immer wieder Opfer von rechtsextremen Angriffen und Pogromen wurden. In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass es in der Westukraine eine große ungarischsprachige Minderheit gibt und dass auch von den in der Region Transkarpatien lebenden Roma gut 60 Prozent Ungarisch als erste Sprache sprechen. Der pauschale Vorwurf, ungarischsprachige Geflüchtete seien keine Geflüchteten aus der Ukraine, sondern Menschen aus Ungarn, die das Sozialsystem ausnutzen wollen, hat hier einen antiziganistischen Beigeschmack.
BSZ: Ist das öffentlich bekannt?
Schneeberger: All diese Tatsachen sind gut dokumentiert und sollten auch den Behörden in Bayern bekannt sein. Stattdessen sehen wir, dass mit Unterstellungen gearbeitet wird und dabei bestehende Stereotype gegenüber als Roma wahrgenommenen Menschen bewusst aufgegriffen und in rechtlich fragwürdiger Weise zur Grundlage behördlicher Entscheidungen gemacht werden. In der Folge bekommen geflüchtete Roma-Familien in Bayern dann keinen vorübergehenden Schutz nach § 24 Aufenthaltsgesetz und somit auch keinen Zugang zu Sozialleistungen.
BSZ: Können Sie das mit Beispielen belegen?
Schneeberger: Uns wurde aus verschiedenen Landkreisen berichtet, dass als Roma wahrgenommene Familien viel genauer überprüft werden als bei Geflüchteten aus der Ukraine üblich. Es werden, wie bereits ausgeführt, weitere Dokumente wie Meldebescheinigungen, Schulbestätigungen oder Einkaufsquittungen verlangt, welche den Aufenthalt in der Ukraine belegen sollen. Solche Maßnahmen, die sich nur auf Roma beziehen, sind diskriminierend. Einige Familien scheitern an diesen zusätzlichen Hürden, da sie die Fristen nicht einhalten oder die geforderten Dokumente nicht beibringen können. Aber wir können auch noch einen Schritt zurückgehen und die Frage stellen, nach welchen Kriterien Verwaltungsmitarbeitende die Entscheidung treffen, wer vermeintlich Roma ist und wer nicht. Die Tatsache, dass Geflüchteten eine vermeintliche Identität zugeschrieben wird und sie daraufhin anders behandelt werden, ist nicht hinnehmbar. Zurück zu den konkreten Beispielen. Zu den Berichten aus den Landkreisen, die sich sehr ähneln, sind uns Einzelfälle bekannt, in denen den betroffenen Familien keine Frist zur Einreichung der angeforderten Unterlagen zugestanden wurde – sie also sofort eine Aufforderung zur Ausreise aus Deutschland erhielten. Im extremsten Fall war diese bereits vordatiert. Die Aufforderung zur Ausreise wurde ausgestellt, noch bevor die Familie in der zuständigen Behörde vorstellig wurde!
Gleichberechtigte Unterstützung für alle Geflüchteten
BSZ: Was unternimmt der Landesverband dagegen?
Schneeberger: Wir weisen auf die Missstände hin, fordern gleichberechtigte Unterstützung für alle Geflüchteten und bieten im Rahmen unserer Möglichkeiten unsere Unterstützung im Rahmen der Antidiskriminierungsberatung und auch der Melde- und Informationsstelle MIA an, die beide beim Landesverband angesiedelt sind. Die Meldestelle MIA dokumentiert uns gemeldete antiziganistische Vorfälle. Weiter müssen geflüchtete Roma als besonders schutzwürdige Gruppe anerkannt werden, wie dies auch im Bericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“ gefordert wird. Deutschland hat eine historische Verantwortung gegenüber den ukrainischen Roma. Unter ihnen befinden sich viele Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und einige wenige Überlebende des nationalsozialistischen Völkermords. Gerade diesen Familien gegenüber sollte es eine Verpflichtung für Deutschland sein, sie zu unterstützen und sie – sollten sie dies wollen – in Deutschland aufzunehmen.
BSZ: Haben Sie konkrete Forderungen an die Politik?
Schneeberger: Der Landesverband fordert den gleichberechtigten Zugang zu allen sozialen Gütern und Leistungen für alle Geflüchteten aus der Ukraine. Insbesondere der Zugang zu Aufenthaltstiteln, Wohnraum, Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung, aber auch zu Sozialleistungen muss allen Geflüchteten zur Verfügung stehen. Hierfür muss eine möglichst diskriminierungsfreie Verwaltungspraxis geschaffen werden. Außerdem muss institutioneller Antiziganismus benannt und sich damit auseinandergesetzt werden. Auch haben wir die Forderung nach mehr Einsatz der sozialen Träger, um den Zugang zu Hilfen sicherzustellen und Segregation zu vermeiden. Wir haben in mehreren bayerischen Landkreisen die Situation, dass man davon sprechen kann, dass die geflüchteten Menschen mit vermutetem Roma-Hintergrund sich selbst überlassen wurden.
BSZ: Ist hier das Innenministerium in seiner Funktion als Kommunalaufsicht stärker gefordert?
Schneeberger: Auf jeden Fall. Es sollten geeignete Beschwerdestrukturen etabliert werden. Im Hilfeprozess beteiligte Mitarbeiter*innen sollten sensibilisiert und geschult werden. Um strukturelle Diskriminierung zu vermeiden, bedarf es der Berücksichtigung von herkunftsbedingter Diskriminierung. Verwaltungshandeln sollte dahingehend überprüft und angepasst werden. Zudem brauchen wir eine offizielle Anerkennung von Antiziganismus als spezifische, gegen die Minderheit gerichtete Form des Rassismus – einhergehend mit einer Positionierung dagegen. Es bedarf einer koordinierten und öffentlich kommunizierten gemeinsamen Kraftanstrengung in den Behörden, bei politisch Verantwortlichen und in der gesamten Gesellschaft sowie der Zusammenarbeit mit Fachleuten aus der Community und den Selbstorganisationen.
(Interview: Ralph Schweinfurth)
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