Kommunales

Wie ausgestorben wirkt die Passauer Altstadt, die Bewohner eilen zum Einkaufen – und dann rasch zurück nach Hause. (Foto: Hubert Denk)

04.12.2020

Inzidenzwert 580 – Tendenz steigend

Wie sich die Corona-Ausgangssperren in Passau und Nürnberg auf den Alltag der Menschen auswirken

Erst Passau, dann Nürnberg – und weitere Städte und Kreise folgten: Auch in bayerischen Kommunen herrschen inzwischen strikte Ausgangssperren, die Menschen dürfen ihr Zuhause nur noch zum Einkaufen, Arbeiten oder für Arztbesuche verlassen. Das öffentliche Leben ist damit faktisch tot. Ein Erlebnisbericht.

Alles begann mit einem Höchststand der Sieben-Tages-Inzidenz von 580. Wer wusste, dass im benachbarten Oberösterreich Werte bis knapp über 1000 in den letzten Tagen aufgeschlagen sind, der fürchtete sich nicht. Passaus Oberbürgermeister Jürgen Dupper (SPD) selbst beruhigte sich, dass die Skala vor allem wegen der Einträge in den Altenheimen so heftig ausgeschlagen habe. In der Summe hat es mehr als 150 Rentnerinnen und Rentner in zwei Altenheimen erwischt, dazu drei Dutzend Pflegekräfte.

Doch am Ende des Einkaufsmarathons namens Black Friday – die Drei-Flüsse-Stadt war noch einmal brechend voll – verkündete der Rathauschef vor laufenden Kameras das, was später als „strenge Ausgangssperre“ durch die Medien ging. Sein Satz lautete: „Es handelt sich um eine allgemeine Ausgangsbeschränkung. Es ist das Verlassen der eigenen Wohnung nur noch nach Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.“ Die Polizei sei angehalten, dies zu kontrollieren und die triftigen Gründe seien glaubhaft zu machen.

Einige Tage später: Der Nebel will nicht aufreißen und die Temperaturen bleiben unter dem Gefrierpunkt hängen. Die Spitzen der Domtürme verschluckt die feuchte Himmelswatte. Der Residenzplatz, zwischen fürstlichem Barock und erhabener Gotik der schönste Platz der Altstadt, liegt wie ausgestorben. In seiner Mitte trägt der Marienbrunnen einen mächtigen Adventskranz, ein Dutzend elektrische rote Kerzen leuchten, aber keine Augen spiegeln sich darin. Hie und da schleppt ein vereinzelter Wochenmarktgänger seine Tüten nach Hause.

Der CSU-Kreischef gibt den neunmalklugen Juristen

In der Bevölkerung regt sich bald Unverständnis zur tatsächlichen Lage des sogenannten strengen Lockdowns, über die Widersprüche. Die Menschen sollen möglichst die Wohnung nicht verlassen, aber sämtliche Dienstleister und Geschäfte sind geöffnet? Spazierengehen mit der Person eines zweiten Haushalts ist erlaubt. Wenn dies alle tun, wird es heute an diesem sonnigen Sonntag auf der Innpromenade eng. Ein Polizeibeamter beschreibt, wie Kontrollen während der Ladenöffnungszeiten enden: „Es genügt, wenn der Betroffene eine H&M-Tüte vorzeigt.“

Friseurmeister Stefan Weiß ist sauer. Bei ihm klingele laufend das Telefon und eine Kundin nach der anderen würde die Termine nächste Woche absagen. „Das kommt einem Lockdown gleich, aber ich erhalte keine Entschädigung“, empört er sich. „Kann ich Glühwein und Cocktails zum Mitnehmen weiterhin ausschenken?“, fragt Cocktailbarbetreiber Hubert Scheungarber. Der Verkauf außer Haus ist erlaubt, aber der Verzehr um die Ecke, in der Gasse oder auf einer Ruhebank nicht. So erklärt es ihm Rathaussprecherin Maria Proske. Der heiße Glühwein oder der Burger dürfen erst in den eigenen vier Wänden geöffnet oder ausgepackt werden.

Die Seuchenschutzregeln der Stadt werden zudem von anderer Seite torpediert, von Juristen. CSU-Kreisvorsitzender Holm Putzke, Strafrechtsprofessor an der Uni Passau, verkündet im Netz, dass es Unfug sei, eine Maskenpflicht im Freien ohne konkrete örtliche und zeitliche Einschränkungen, also rund um die Uhr zu verhängen. Er schreibt belehrende Briefe an den OB. Altstadtbewohner, darunter ein Juristenkollege, lassen prüfen, ob sie Recht bekämen. Das Regensburger Verwaltungsgericht bestätigt den Rechtsschutz, zu einem Urteil kommt es mangels Kläger nicht.

Einer dieser klagewilligen Altstadtbewohner outet sich wenige Tage später, als er im Landgericht einen der versuchten Erpressung angeklagten Mandanten verteidigt: „Man kann jetzt die Maske in der Altstadt wieder abnehmen, die Verordnung gilt nicht mehr“, sagt Rechtsanwalt Sebastian Gaßmann. Er demonstriert es beim Verlassen des Landgerichts, als er auf die Gasse tritt.

Sogar Ministerpräsident Söder schaut persönlich vorbei

Wie passt das zusammen? Juristen wollen verhindern, dass der Mund-Nasen-Schutz zur Gewohnheit wird. Sie pochen auf das Recht der Verhältnismäßigkeit, darauf, die in der Innenstadt im Freien verhängte Maskenpflicht zu kippen. Auf der anderen Seite tobt die Pandemie in Passau so heftig, dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) persönlich anreist, um sich ein eigenes Bild zu machen.

Am ersten Tag des Lockdowns wäre er wohl erschrocken. Vor dem Malteser-Altenheim in der Innenstadt rollte eine Kolonne von Krankenwagen an. Ein Notzelt ist vor dem Haupteingang aufgeschlagen worden. Es sind Kräfte des Malteser-Krisenstabs angereist, die angefordert worden sind, das Personal zu unterstützen.

In diesem Heim sind unter 135 Bewohnern mehr als 50 positiv getestet worden. Vier Rentnerinnen und Rentner sind verstorben. Das Personal versucht seit dem Ausbruch, die positiv Getesteten und Erkrankten von den nicht Angesteckten zu trennen. Es sind offenbar zu wenig Kräfte im Heim, um die Aufgabe zu bewältigen, innerhalb des Gebäudes einen Isolationsbereich zu schaffen. Es sind Zwölf-Stunden-Schichten angeordnet, das reicht offenbar nicht.

„Wir haben soeben die Zusage bekommen, dass uns ab 3. Dezember sechs Soldat*innen der Bundeswehr unterstützen werden“, teilt Sprecherin Olga Jabs mit. Was sich hinter den hell erleuchteten Fenstern abspielt, lässt sich nur erahnen. Ein Augenzeuge berichtet, dass in diesem ursprünglich als Studentenwohnheim konzipierten Haus die Türöffnungen zu schmal für die Pflegebetten seien. Sie könnten nicht einfach von einem in den nächsten Raum geschoben werden. Bettlägerige, Gehbehinderte und Gebrechliche müssen auf Rollstühle oder Tragen für den Umzug umgebettet werden. Die Feuerwehren, die ursprünglich um Hilfe gebeten worden sind, hatten sich wieder zurückgezogen. Es sei nicht ihre Aufgabe, zudem sind sie für den Umgang mit Corona-Erkrankten nicht ausgerüstet.

Im Opernhaus proben sie "Madame Butterfly" - rein digital

Während sich die Helfer im Altenheim abmühen, ist auf der Bühne des Passauer Opernhauses seit Langem wieder das erste Mal Hochbetrieb; vor und hinter den Kulissen. Vier Kameras laufen. Die Verantwortlichen des Niederbayerischen Landestheaters haben sich entschlossen, den Sprung von der Bühne auf den Bildschirm zu wagen. Mit der Puccini-Oper Madama Butterfly ist die erste digitale Produktion begonnen worden.

Die Polizei berichtet, dass sich die Bevölkerung zum weitaus überwiegenden Teil vorbildlich verhält. In der Nacht fuhren auffällig viele Streifenwagen und Zivilwagen Patrouille. Etwa jeder 50. Passauer hat sich bis heute mit Corona angesteckt. Einer von 49 positiv Getesteten hat die Virusinfektion nicht überlebt.

Seit Beginn der Woche sind an einem Dutzend Passauer Schulen rund 100 Schüler*innen in Quarantäne und warten auf ihre Tests oder Ergebnisse. Im Telefonat erklärt ein Schulleiter, der nicht genannt werden will: Wechselunterricht mit kleinen Klassen, so wie in der ersten Welle, wäre wünschenswert. Die Hygienekonzepte funktionierten im Normalbetrieb nicht.

Die niederbayerische Kommune ist jene Region, in der sich das Virus bundesweit am dramatischsten ausgebreitet hat. Das Robert Koch-Institut vermeldet eine Sieben-Tages-Inzidenz von 580. Und nicht nur das. In der Vollmondnacht erreichte die Pandemie einen weiteren Tiefpunkt: Innerhalb eines Tages sind sechs Menschen, vier Seniorinnen und zwei Senioren zwischen 81 und 100 Jahre alt, am Virus gestorben. Zuvor fielen ihm im Stadtgebiet seit Pandemiebeginn 24 Menschen zum Opfer.

Womöglich bundesweit erste Impfungen

OB Dupper hat am vierten Tag der bedingten Ausgangssperre im Kleinen Rathaussaal einen Auftritt vor mehreren Fernsehteams. Pünktlich setzt er sich vor die Mikrofone, die Stadtratssitzung am Nachmittag hat er zuvor abgesagt. Es ist sein erster öffentlicher Auftritt, bei der er die weiße FFP2-Maske nicht abnimmt, wenn er ins Mikro spricht. Die Ereignisse haben sich derart überschlagen, dass er sich nicht über die genauen Todeszahlen im Klaren ist. Die verkündeten vier werden eine Stunde später per Pressemittelung auf sechs korrigiert.

Im Nachbarland Österreich gilt ein strenger Lockdown, bis auf Lebensmittelgeschäfte ist der Einzelhandel geschlossen. Die Kennzeichen auf den Straßen im Stadtgebiet zeigen, wohin die Bewohner zum Einkaufen ausweichen. Bringen die Einkäufer und Tagesausflügler das Virus über die Grenze? Und was kann Dupper dagegen unternehmen? Auf die Staatsgrenzen habe er als Stadtbürgermeister keinen Einfluss, antwortet der OB auf die Frage eines Fernsehteams. „Es ist so, dass die Passauer ungehindert nach Österreich zum Tanken fahren können und umgekehrt die Österreicher zum Einkaufen nach Passau.

Für die Stadt – nach wie vor bei der Ausbreitung Corona-Höchststand in der Republik – könnte die dramatische Lage einen Vorteil bringen, von der Politik forciert zu werden als Schauplatz der ersten Impfungen. Der Oberbürgermeister hat angekündigt, dass am 15. Dezember das Impfzentrum in der X-Point-Halle öffnen könnte. Er sah allerdings gestern wenig Chancen, dass bis Weihnachten wieder Normalität einkehrt. Er ist zuversichtlich, dass in betroffenen Kommunen wie seiner die Novemberhilfen auch für Dezember gelten.

Den Glühwein-Trinkern geht es an den Kragen

Ernst blickt Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König (CSU) am Dienstagmorgen in die Kameras. „Wir werden den Konsum und den Verkauf von Alkohol in der Innenstadt ab sofort verbieten“, sagt König bei der virtuellen Pressekonferenz und meint damit wohl: Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. In der letzten Nacht habe die Stadtspitze darüber beraten, wie das Infektionsgeschehen in der fränkischen Großstadt nach unten gedrückt werden kann.

Besonders in der Altstadt will König keine Ausnahmen mehr durchgehen lassen. Zuletzt hätten sich viele Menschen einen Glühwein zum Mitnehmen gekauft und sich mit der To-go-Tasse in die Sonne gehockt. Solche Szenen dürfe es laut dem Oberbürgermeister nicht mehr geben. Deshalb werde auch der Verkauf von Alkohol genauso wie der Konsum in der gesamten Innenstadt untersagt.

Außerdem wird die Maskenpflicht in der City ausgeweitet. Ein Verlassen der Wohnung soll nur noch bei triftigen Gründen wie auf dem Weg zur Arbeit oder zum Arzt erlaubt sein. Auch der Gang zum Amt sei erlaubt. Man darf auch zum Einkaufen fahren. Sogar die Weihnachtskäufe könnten die Menschen erledigen. Allerdings ohne einen ausgedehnten Bummel durch die Fußgängerzone. Viele der neuen Maßnahmen erinnern an den ersten Lockdown im Frühjahr. „Bitte bleiben Sie zu Hause. Und das am besten alleine“, hat König an die Bevölkerung mit durchaus dramatischen Worten appelliert. Generell seien nur noch Kontakte zwischen zwei verschiedenen Haushalten erlaubt.

„Die Trendwende bisher noch nicht geschafft“

Aber auch König weiß offensichtlich, dass er die Regelungswut nicht zu weit treiben darf. Schließlich müsse die Stadt die neuen Maßnahmen auch kontrollieren können. „Wir können nicht alles regeln. Wir müssen auf die Eigenverantwortung der Bürger und den gesunden Menschenverstand der Bevölkerung setzen.“ Der erst seit Mai amtierende OB hat angekündigt, besonders Menschenansammlungen in der Innenstadt mit einem wachsamen Auge vermeiden zu wollen. „Wir werden natürlich Kontrollen durchführen.“

Gesundheitsreferentin Britta Walthelm (Grüne) hat den Ernst der Lage mit aktuellen Zahlen verdeutlicht. Über 30 Corona-Patienten würden derzeit beatmet. Über 150 Corona-Patienten befänden sich auf Normalstationen. Zusätzlich würden 50 Verdachtsfälle im Krankenhaus versorgt. Wenn der Anstieg nicht gestoppt werden könne, würde auch das große Nürnberger Klinikum an die Grenzen seiner Belastbarkeit kommen. Im Vergleich zur ersten Welle seien die Infektionszahlen mit 150 bis 300 Neuerkrankungen pro Tag derzeit dreimal so hoch. Von dem Ziel eines Inzidenzwerts unter 50 sei die Frankenmetropole „sehr weit“ entfernt. „Nürnberg hat die Trendwende bisher nicht geschafft.“ (Hubert Denk, Nikolas Pelke)

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