Die Vorteile des Radfahrens für Klima und Gesundheit sind bekannt. Warum fährt trotzdem immer noch die Hälfte der Deutschen nicht mit dem Radl? Dieser Frage ist die Forschungsgruppe Mobilität am Department für Geographie der Münchner LMU nachgegangen. Ergebnis: Mehr Menschen aufs Rad zu bringen, muss für Kommunen weder zeitaufwendig noch teuer sein. Jetzt gibt es einen Handlungsleitfaden.
BSZ: Frau Popp, 2017 fuhr fast jeder zweite Deutsche nicht Rad. Seit Corona boomt das Fahrradgeschäft. Sind die Deutschen jetzt eine Radfahrernation?
Monika Popp: Nein, noch lange nicht. Während der Pandemie stieg zwar tatsächlich die Nachfrage nach Fahrrädern, längere Lieferzeiten waren keine Seltenheit. Jetzt wird es spannend, wie viele Menschen dabeibleiben und wie viele wieder in alte Routinen zurückfallen. Der Effekt lässt sich noch nicht abschließend bewerten – aber es besteht durchaus die Chance, dass Neu- und Wiederaufsteiger weiter radeln. Für die vom Nationalen Radverkehrsplan angestrebte Trendwende in der Mobilität reicht das nicht aus. Auch vor der Pandemie haben wir schon in einigen Regionen steigende Zahlen bei den Radfahrer*innen gesehen. Deutschlandweite Erhebungen zeigen uns aber, dass insbesondere der Anteil der Nicht-Radfahrer*innen von 2008 bis 2017 sehr konstant geblieben ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass bisher primär bereits aktive Radfahrer*innen mehr Wege mit dem Rad zurücklegen. Wenn wir die gesetzten Ziele erreichen wollen, müssen wir mehr Menschen zum (Wieder-)Aufstieg motivieren.
BSZ: Gibt es neben den politischen Ursachen auch persönliche Gründe, warum manche Menschen kein Fahrrad fahren?
Popp: Wir haben festgestellt, dass das soziale Umfeld die Mobilitätspraktiken von Menschen entscheidend prägt. Wenn die Familie, Freunde und Bekannte nicht Rad fahren, sieht diese Gruppe das Fahrrad ebenfalls nicht als alltagstaugliches Verkehrsmittel an – sondern eher als etwas für die Freizeit oder Kinder. Das gilt übrigens sowohl für Menschen in der Stadt als auch auf dem Land. Zusätzlich haben wir uns mit Mobilitätsbiografien auseinandergesetzt. Dabei zeigte sich: Einschneidende Lebensereignisse wie zum Beispiel ein Umzug, die Geburt eines Kindes oder ein Verkehrsunfall beeinflussen oft die Radfahrgewohnheiten.
BSZ: Was muss passieren, damit diese Menschen aufs Rad steigen?
Popp: Aktuell setzt die Politik vor allem auf infrastrukturelle Maßnahmen wie zum Beispiel neue Radwege. Das ist zwar richtig und wichtig. Unsere Untersuchungen zeigen aber: Das allein wird nicht reichen. Es braucht zusätzlich eine Mobilitätskultur, die das Radfahren in der breiten Bevölkerung fördert und unterstützt. Nur so können auch Nicht-Radfahrer*innen zum (Wieder-)Aufstieg auf das Rad gewonnen werden. In den Niederlanden – der Fahrradnation in Europa – zählt beispielsweise nur ein Drittel der Bevölkerung als Nicht-Radfahrer. In Deutschland ist es – wie gesagt – jeder Zweite. Hier müssen wir ansetzen.
"Das Umdenken begann anderswo schon vor Jahrzehnten"
BSZ: Was können Städte und Gemeinden konkret tun?
Popp: Es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, angefangen bei Informationen zum Radfahren und zu konkreten Routen über (Mitmach-)Aktionen bis hin zu finanziellen Anreizen. In jedem Fall gilt es, Radfahren als alltagstaugliche Praxis zu etablieren. Lebensereignisse stellen gute Anknüpfungspunkte dar. In einigen Städten wurden zum Beispiel Angebote für Neubürger*innen entwickelt, vom Radlstadtplan bis zu Einsteigerradtouren. Auch Fahrradkurse und Kurse zur Fahrsicherheit sind ein wichtiger Baustein, danach fahren Menschen wieder mehr Rad. Sinnvoll sind ebenso Testangebote zum Ausprobieren von (E-)Fahrrädern oder Kindersitzen, am besten für einen längeren Zeitraum. Gerade in Städten ist auch das Thema Reparatur und sicherer Fahrradabstellplatz eine nicht zu unterschätzende Barriere.
BSZ: Wird an Schulen genug unternommen?
Popp: Langfristig ist es enorm wichtig, dass alle einen sicheren Umgang mit dem Fahrrad erlernen und das Radfahren als attraktive Fortbewegungsart im Alltag erleben. Die Realität zeigt uns aber: An unseren Grundschulen schaffen bei Weitem nicht alle Schüler*innen den Radlführerschein. Und in den weiterführenden Schulen spielt das Fahrrad nur mehr eine geringe Rolle. Initiativen wie die SchoolBikers haben hier tolle Programme entwickelt, die mit einem Mix aus Fahrtraining und Freude am Radfahren dazu beitragen, das Fahrrad als Transportmittel zu etablieren. Wünschenswert wäre hier eine feste Einbindung in den Lehrplan. Das Schöne ist: Diese Maßnahmen bringen viel, kosten aber relativ wenig.
BSZ: Der Freistaat strebt an, dass bis 2025 20 Prozent aller Wege in Bayern mit dem Fahrrad oder E-Bike gefahren werden. Ist das realistisch?
Popp: Sagen wir mal so: Vor der Pandemie waren es in München 18 Prozent, durch die Pandemie sind es aktuell noch ein paar Prozentpunkte mehr. München und einige andere Regionen stechen in Bayern aber deutlich heraus. Der landesweite Durchschnitt lag bei der letzten Erhebung 2017 bei 11 Prozent. Um auf die genannten 20 Prozent zu kommen, müsste sich die Zahl also bis 2025 verdoppeln – das erfordert sehr schnelle und drastische Veränderungen. Andere Länder wie Dänemark oder die Niederlande oder Städte wie Sevilla oder Paris haben gezeigt, dass dieses Ziel keinesfalls utopisch ist.
BSZ: Was können wir von Ländern wie den Niederlanden lernen?
Popp: Zum Teil begann das Umdenken weg von der autogerechten hin zu einer fahrradfreundlichen Stadt in anderen Ländern schon vor Jahrzehnten. Die Dänen haben ausgerechnet, dass die Gesellschaft pro gefahrenem Fahrradkilometer 23 Cent gewinnt, weil die Menschen gesünder sind und weniger externe Kosten entstehen. Der Autokilometer kostet die Gesellschaft durch Lärm, Luftverschmutzung, Unfälle, Straßenbau und -instandhaltung hingegen 85 Cent. In skandinavischen Ländern werden diese Kosten unter anderem durch hohe Gebühren bei der Autoanmeldung direkt bei den Verursachern geltend gemacht. Dadurch überlegen sich die Menschen eher, ob nicht generell oder zumindest als Zweitwagen ein Fahrrad oder Lastenrad ausreicht. Damit wurde die Fahrradfreundlichkeit im Sinne eines Push- und Pull-Ansatzes nicht nur durch attraktive Radinfrastruktur, sondern auch durch eine andere Bewertung des Autoverkehrs erreicht. Zu Beginn gab es auch in Dänemark und den Niederlanden Widerstände. Heute schaut die ganze Welt nach Kopenhagen. Das zeigt: Dranbleiben lohnt sich. (Interview: David Lohmann)
Der Handlungsleitfaden und auch der Projektfilm lässt sich unter www.muc-mobilities.de abrufen.


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