Kommunales

Die Berater*innen der Krisendienste Bayern hören zu und zeigen Wege aus der Krise auf. Im Bild zu sehen sind zwei Mitarbeitende der Leitstelle in Schwaben. (Foto: Saskia Pavek)

23.02.2022

Professionelle Hilfe in schwerer Seelennot

Krisendienste Bayern ziehen nach dem ersten Jahr eine äußerst positive Bilanz

Vor knapp einem Jahr starteten die Krisendienste Bayern: Sie sind das erste flächendeckende Angebot zur Soforthilfe bei psychischen und psychiatrischen Notfällen in einem Bundesland. Die Krisendienste Bayern sind ein Netzwerk aus sieben eigenständigen regionalen Krisendiensten, die von den bayerischen Bezirken organisiert werden. Unter der kostenlosen Nummer 0800/655 3000 erhalten Menschen in seelischen Notlagen qualifizierte Beratung und Unterstützung.

„Mein Name ist Bettina S., ich rufe an, weil ich unbedingt eine Psychotherapie brauche“, sagte die Frau am Telefon. Miriam Wiedemann vom Krisennetzwerk Unterfranken hörte diesen Wunsch keineswegs zum ersten Mal. Immer wieder melden sich bei dem vor einem Jahr eingerichteten Netzwerk Menschen, die gerne psychotherapeutische Unterstützung hätten. Allerdings ist es nicht in jedem Fall Psychotherapie, was die Anruferinnen und Anrufer brauchen, schildert die Sozialpädagogin.


Die Mutter kommt mit ihrem Bub nicht mehr klar


Im Gespräch mit Bettina S. (Name aller Anrufenden geändert) versuchte Wiedemann zunächst herauszufinden, aufgrund welcher Problematik die Frau zu dem Schluss kam, dass sie eine Therapie bräuchte. Sie werde mit ihrem 13-jährigen Sohn einfach nicht mehr fertig, erzählte Bettina S, der Bub schlug über die Stränge. Vor allem: „Er trinkt.“ Immer wieder versuchte die Alleinerziehende, ihn davon abzuhalten. Der Sohn reagierte bockig auf die Verbote. Genervt. Er fühlte sich gegängelt und war verletzt. Was wiederum der Mutter Schuldgefühle bereitete. „Es stellte sich heraus, dass die Anruferin vor allem Erziehungsberatung und keine Psychotherapie braucht“, so Miriam Wiedemann.

Nicht immer sind die Fälle so vergleichsweise einfach zu lösen, schildert die Sozialpädagogin am Beispiel von Stefan T., für den zunächst die Polizei angerufen hatte. Stefan T. ist 30 Jahre alt und lebt noch bei seinen Eltern – was nicht ganz einfach ist. In letzter Zeit vertieften sich die Spannungen in der Familie. Stefan T. nervten zunehmend die „ständigen Männerbesuche“ bei seiner Schwester. Neulich eskalierte die Situation. Stefan T. rief in seiner Not aus: „Ich bring mich um!“ Die Familie kontaktierte daraufhin die Polizei. Die kam und nahm Stefan T. mit. Von der Inspektion rief ein Beamter das unterfränkische Krisennetz an.

Auf der Wache beteuerte Stefan T. zwar mehrmals, er habe das alles nicht ernst gemeint: „Ich will mir nicht das Leben nehmen!“ Doch dem Polizeibeamten, mit dem er sich unterhielt, kam die Sache nicht ganz geheuer vor. „Darum kontaktierte er uns“, berichtet Miriam Wiedemann. Sie bat, kurz mit dem Klienten sprechen zu können: „Auch mir kam er irgendwie merkwürdig vor.“ So beharrte Stefan T. darauf: „Ich gehe auf gar keinen Fall nach Hause!“

 

Mobile Teams absolvierten 2021 mehr als 2300 Einsätze


Von der Lohrer Leitstelle des Krisennetzes aus aktivierte Miriam Wiedemann daraufhin eines der drei unterfränkischen mobilen Teams. Das fuhr sofort zu dem Klienten. Stefan T. war schließlich zu bewegen, nach Hause zu gehen. Die Einsatzkräfte des mobilen Teams lernten die Familie kennen. Und sie stellten etwas Wichtiges fest, so Miriam Wiedemann: „Stefan T. hat eine Minderbegabung, die noch nicht diagnostiziert war.“ Um ihm zu helfen, verwiesen die Mitarbeiter des Teams den jungen Mann auf die nächstgelegene Stelle der sogenannten Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung.

Knapp 54 000 Anrufe von Hilfesuchenden sind in den Leitstellen der bayerischen Krisendienste allein in den zehn Monaten des Jahres 2021 nach dem offiziellem bayernweiten Start eingegangen. In rund zwei Drittel der Fälle melden sich die Klient*innen selbst. Meistens reicht ein entlastendes Gespräch am Telefon oder eine konkrete Empfehlung für die Anrufenden aus. In ganz dringenden Fällen gibt es Unterstützung vor Ort.

Die mobilen Teams waren im vergangenen Jahr rund 2300 Mal im gesamten Freistaat im Einsatz. Manche Expert*innen sagen, dass sich Krisen im Jahresverlauf ändern: In der kalten und dunklen Jahreszeit geht es vielen Menschen seelisch schlechter als dann, wenn die Welt warm und bunt ist.
Wegen der noch kurzen Laufzeit können solche Tendenzen beim Krisendienst in der Oberpfalz noch nicht ausgemacht werden. „Allgemein lässt sich sagen, dass die Angst vor Corona, das Thema Einsamkeit sowie Ängste und Panikattacken in den Gesprächen häufig auftauchen“, berichtet Jens Scheffel, Geschäftsführer des Krisendiensts Oberpfalz. Daneben geht es um Süchte, Psychosen, Depressionen und Suizidalität.

Reicht ein Gespräch? Die Beraterinnen und Berater am Telefon stehen vor der Herausforderung, dass sie sehr schnell erkennen müssen, wie hoch der Handlungsdruck ist. Darauf basiert die Entscheidung, ob ein Gespräch reicht, ob es ein mobiles Team des Krisendiensts braucht oder ob Polizei oder Rettungsdienst verständigt werden müssen. Darüber hinaus besteht die Hauptaufgabe darin, zuzuhören, gezielt nachzufragen und so mit den Anrufern zu reden – auf dass die Gespräche einen entlastenden Effekt haben. „Klienten müssen allein über das Ohr das Gefühl vermittelt bekommen, mit ihrer Krise angekommen, angenommen und ernst genommen zu werden“, so Jens Scheffel. Beratende brauchen also reiches Fachwissen, hohe kommunikative Fähigkeiten – und zudem einen guten Überblick über die Versorgungslandschaft.



Neue Mitarbeitende werden zwei Monate eingearbeitet


Beim Krisendienst in Oberbayern, der beim KBO-Isar-Amper-Klinikum angesiedelt ist, werden neue Mitarbeiter*innen bis zu zwei Monate eingearbeitet, damit sie wirklich versiert im Umgang mit den Anrufer*innen sind. Aktuell arbeiten 45 Personen am Telefon in der Krisenintervention. „Wir haben ein multiprofessionelles Team“, so Petra Brandmaier, ärztliche Leiterin des Krisendiensts Psychiatrie Oberbayern. Neben Pflegekräften für Psychiatrie sind zum Beispiel auch Sozialpädagog*innen und Psycholog*innen im Einsatz.

Anlässlich der Woche der seelischen Gesundheit im Oktober vergangenen Jahres wurde ein Live-Stream über den oberbayerischen Krisendienst gedreht. In mehreren Filmclips erzählen Mitarbeiter*innen der Leitstelle, warum sie beim Krisendienst tätig sind und welche Bedeutung die Einrichtung in ihren Augen hat. Der Krisendienst, so eine Mitarbeiterin, sei das unabdingbar notwendige Pendant zu jenen Leitstellen, die es in Bezug auf somatische Krankheiten schon sehr lange gebe. Hier dürfen sich alle Menschen melden, die „vor einer Wand stehen“ und fühlen, dass sie alleine nicht mehr weiterkommen. Seelische Krisen können dieser Mitarbeiterin zufolge tatsächlich jeden Menschen treffen. Niemand, egal, wie alt oder wie erfolgreich er bisher im Leben gewesen war, habe die Garantie, von seelischem Leid verschont zu bleiben. (Pat Christ)


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