Sie haben sich befreit vom Chefdirigenten-Egokult alter Couleur. Er ist auch intersozial im Grunde längst überholt. Trotzdem prägt er noch immer die internationale Orchesterlandschaft. Das gilt besonders für das Kulturleben in München und Bayern mit seinem ausgeprägten Zentralismus. Das Münchener Kammerorchester (MKO) hat diese Tradition nun überwunden, um zu einer eigenen Lösung zu finden. In den kommenden drei Jahren arbeitet es nicht mehr mit einem einzigen Chefdirigenten zusammen. Vielmehr wirken drei Persönlichkeiten gemeinsam mit dem MKO: Jörg Widmann, Bas Wiegers und Enrico Onofri. Der Startschuss zu dieser Neuausrichtung fiel mit Eröffnung der neuen MKO-Saison unter Onofri.
Die drei Dirigenten haben künstlerisch unterschiedliche Profile, setzen jeweils eigene Schwerpunkte. Genau das ist die große Chance fürs Orchester. Denn keine Dirigentenpersönlichkeit beherrscht das gesamte Repertoire gleichermaßen gut.
Nun gehören Konzertmeisterprogramme ohne Dirigent längst zur MKO-DNA, aber dieses Dreier-Modell ist neu. Damit agiert das Orchester weder basisdemokratisch noch egozentrisch. Warum dieser eigene Mittelweg? „Wir haben uns alle bewusst für ein Kammerorchester entschieden“, holt Bratscherin Nancy Sullivan aus. „Diese Freiheit haben wir uns ergattert und es ist wichtig, dass wir sie auch mitgestalten können. Das ist ganz anders als in einem großen Symphonieorchester.“ Sullivan meint damit eine „aktive, intellektuelle Haltung“, die auch inspiriert werden müsse. „Wir setzen uns als Kammerorchester aus kreativen Individuen zusammen.“ Warum aber drei leitende Persönlichkeiten? „Es mag paradox erscheinen, eben weil man die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt“, so Konzertmeisterin Yuki Kasai, „aber wir wollen gleichzeitig unsere Offenheit und Neugierde weiterleben.“ Umso folgerichtiger sei es, die Perspektive größtmöglich zu öffnen. „Diese drei Persönlichkeiten passen phantastisch zu uns und sind gleichzeitig total unterschiedlich. Genau das spiegelt zugleich unsere Neugierde wieder.“
Ähnlich sieht das auch das Dirigiertrio. „Ich möchte mit ihnen gemeinsam lernen, ergründen, einen gemeinsamen Ausdruck finden: sei es in Alter oder Neuer Musik, Klassik oder Romantik“, so Onofri über seine Zusammenarbeit mit den Musiker*innen. Er spricht von einer „Entdeckungsfahrt“. Sein Kollege Wiegers schwärmt von der „unglaublichen Energie und Offenheit im MKO“ und einer „schier grenzenlosen Freiheit und Offenheit“. „Ich habe beim MKO stets erlebt, dass die Musiker bereit sind, mit mir bis zum Rand dessen zu gehen, was möglich ist – und auch darüber hinaus“, ergänzt der Klarinettist, Komponist und Dirigent Widmann.
Bei aller Euphorie erfordert dieses Dreier-Modell auch viel Mut. Es ist kein Geheimnis, dass die Berliner Philharmoniker ebenfalls mit einem ähnlichen Modell geliebäugelt hatten – letztlich haben sie aber Kirill Petrenko, den früheren Münchner Staatsopern-GMD, zum Nachfolger von Simon Rattle gekürt.
Beim MKO reifte die Idee schon länger. In der Pandemie wurde sie Realität. „Die Pandemie haben wir auch verstärkt dazu genutzt, uns zu finden“, erklärt Geschäftsführer Florian Ganslmeier. „Das jetzige Dreier-Modell ist stabil, weil es eben nicht aleatorisch mit Gästen agiert, und zugleich alles das möglich macht, was zu unserem Profil ganz wesentlich gehört.“
Für diesen Schritt braucht man nicht zuletzt treue, aufgeschlossene Partner, und die hat das MKO offenbar. „Mit diesem Dreier-Modell gewinnt das MKO zusätzlich eine Diversität an Sichtweisen. Das ist natürlich sehr spannend und kann die Kreativität massiv steigern“, betont beispielsweise Marshall Emmanuel Kavesh, Gründer und Geschäftsführer vom MKO-Hauptsponsor ECT. Für Abonnent Martin Frede kann dieses Modell durchaus Nachahmung finden. Jedenfalls verweist er auf die Münchner Philharmoniker, die mit einigen Chefdirigenten nicht so viel Glück hatten.
Abonnentin Alexandra Vollmer nennt das Dreier-Modell einfach nur „phantastisch“. „Es wird nie langweilig, weil jeder einen anderen Schwerpunkt hat. Außerdem hält eine gewisse Konkurrenz zwischen leitenden Persönlichkeiten auch frisch.“ Wie sie das meint? „Manchmal wird’s halt mit der Zeit schon a bisserl fad mit einem einzigen Chefdirigenten. Der bleibt ja eh, da kann man nichts machen.“ Allerdings hätte Alexandra Vollmer gerne eine Frau unter den drei leitenden Persönlichkeiten gehabt. Noch dazu würde sie sich über ein Konzert freuen, bei dem alle drei dirigieren.
Das frühere Chef-Modell ist übrigens nicht vom Tisch, sondern bleibt laut MKO-Satzung weiterhin eine Option.(Marco Frei)
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