Kultur

Waren im Livestream zu bewundern (von links): Julia Sturzlbaum, Daniel Gutmann und Judith Spießer. (Foto: Christian POGO Zach)

18.12.2020

Balzritual als sexuelle Revolution

Ein „Vetter aus Dingsda“ als Gärtnerplatz-Live-Stream

Auch einen „Live-Stream“ muss man sich leisten können. Damit sich das Ergebnis sehen lassen kann und nicht hilflos wirkt, sind exzellente Technik und geschultes Personal erforderlich. Das alles kostet zusätzlich viel Geld, was nur wenige Theater und Klangkörper haben: auch im „Kulturstaat Bayern“. Selbst das Gärtnerplatz-Theater in München ist deswegen erst spät zum „Live-Stream“ gekommen.

Erst als das Kunstministerium bei der professionellen Ausrüstung half, konnten hier Mitschnitte im Internet starten. Das war jetzt im Herbst, zu Beginn der neuen Saison. Auch das verrät viel über die chronische Unterfinanzierung am Gärtnerplatz-Theater. Dieses Haus ist – neben der Komischen Oper in Berlin, der Volksoper Wien und der „Opéra-comique“ in Paris – die einzige noch verbliebene Bühne für leichtes Musiktheater in Zentraleuropa.

Trotzdem verfügt das Gärtnerplatz-Theater nicht annährend über dasselbe Budget. Für den „Kulturstaat Bayern“ ist auch das eine lächerliche Blamage. Umso erstaunlicher ist es, was dieses Haus an kreative Leistung vollbringt. Das zeigte sich auch jetzt wieder bei der „Live-Stream“-Premiere der Operette Der Vetter aus Dingsda von Eduard Künneke. Diese Neuproduktion war die zweite Premiere, die das Gärtnerplatz-Theater im Internet realisierte.

In die 1960er Jahre katapultiert

Hierzu hat Lukas Wachernig für seine Inszenierung das 1921 in Berlin uraufgeführte Werk in die 1960er Jahre katapultiert. Das verraten jedenfalls manche Details in der Bühne von Karl Fehringer und Judith Leikauf sowie in der Ausstattung von Dagmar Morell. Genau das passt zum Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, der sich hier bei den „jungen Wilden“ die Bahn bricht.

Sie begehren auf gegen den konservativen, muffigen Geist der Spießer-Gesellschaft samt Gartenzwergen. Das gilt zunächst vor allem für Julia de Waart (Judith Spießer): Sie hat viel geerbt, aber ist noch nicht volljährig. Deswegen sind Onkel Josef (Erwin Windegger) und Tante Wilhelmine (Dagmar Hellberg) ihre lästigen Vormünder. Gleichzeitig sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe: ihr Vetter Roderich. Der ist vor einiger Zeit ins ferne Java gesegelt.

Der Landratssohn Egon von Wildenhagen (Daniel Gutmann) wittert seine Chance und buhlt um die Hand Julias. Das möchten die Vormünder verhindern und setzen auf ihren brotlosen Neffen August Kuhbrot (Maximilian Mayer). Doch da gibt es ein Problem: Sie haben ihn zuletzt als Zweijährigen gesehen. Mit ihrer Freundin Hannchen (Julia Sturzlbaum) erträumt sich Julia die Welt, wie sie ihr gefällt.

Als der flotte August unerkannt eintrudelt, beginnt die „sexuelle Revolution“. Er gibt sich als Roderich aus, aber: Der braust erst viel später mit einem schicken Auto in die Szene (Stefan Bischoff), um Hannchen den Kopf zu verdrehen. Das alles wird durch das Gärtnerplatz-Theater zu einem spritzigen, unterhaltsamen Abend verdichtet. Es sind vor allem Gassenhauer wie „Strahlender Mond“ oder „Onkel und Tante, ja das sind Verwandte“, die hängenbleiben.

Dafür sorgt nicht zuletzt Andreas Kowalewitz am Pult des Gärtnerplatz-Orchester: viel süffiger Schmelz mit fein-grobem Witz. Das gilt gerade auch für den feschen August von Mayer. „Ich bin nur ein armer Wandergesell’“, trällert er oder „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken“. Manche Texte wären heute in Zeiten von „MeToo“ schwer denkbar. Sonst aber hat sich am Balzritual zwischen den Geschlechtern nicht viel geändert.
(Marco Frei)

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