Erst kräftig mit einer Pumpe, dann vorsichtig mit spitzen Lippen pustet er Holzstaub aus den Fugen. „Kaum, dass man genauer hinschaut, sieht man schon wieder etwas“, murmelt Oswald Senoner. Wie beiläufig nimmt er eine Raspel und streicht ein, zwei Mal über eine Kante – eine subtile Korrektur, die kein anderer Betrachter erkennen wird, schon allein deshalb nicht, weil diese Kante in gut zweieinhalb Metern Höhe ist und obendrein himmelwärts gerichtet ist.
Aber Oswald Senoner nimmt es mit der Perfektion übergenau – immerhin hat er es mit einem Genius seiner Zunft aufgenommen: mit Ignaz Günther, dem legendären Bildhauer des bayerischen Rokoko. Eines dessen Prachtwerke hat Senoner kopiert.
Ignaz Günther hatte einst für das Neue Schloss Schleißheim

repräsentative Portale geschaffen – sie sind heute herausragende Kunstschätze der Bayerischen Schlösserverwaltung: wegen ihrer inhaltlichen Gestaltung und ihrer handwerklichen Ausführung.
Beim Lesen stottern
Die prächtigen Bildreliefs zeigen Sinnbilder der Architektur und der Schönen Künste, eine Jagddarstellung und die Allegorie der Gartenkunst. Abgebildet sind auch entsprechende Gerätschaften wie eine Malerpalette, Zirkel und Lineal, Jagdhorn, Fischnetz, Pfeilköcher und Gewehr sowie allerlei landwirtschaftliche Utensilien.
Aber das „Lesen“ dieser filigranen Bildgeschichte in Eichenholz gelingt inzwischen zunehmend mühsamer, an manchen Stellen bleibt nur noch ein lückenhaftes Stottern: Rund zweieinhalb Jahrhunderte haben die Tore Wind und Wetter abgehalten – „ich habe Jahr um Jahr verfolgt, wie sie dramatisch verwittern“, erzählt Oswald Senoner. Die Reliefs sind verflacht, wirken wie abgeschmirgelt, haben Fehlstellen.
Wohldosiert verwittern
Seit 35 Jahren ist Oswald Senoner im Dienst der Bayerischen Schlösserverwaltung – und zwar als Bildhauer. Jetzt geht er in den Ruhestand – und verabschiedet sich eben mit einer Kopie dieser Ignaz-Günther-Meisterstücke.

Die Originale werden demnächst demontiert und sicher vor der Witterung präsentiert, an ihre Stelle kommen die Kopien von Oswald Senoner und seiner Kollegin Margaretha Binapfl.
Gerade noch klagte der Bildhauer über den zunehmenden Verfall der Originale, schon sagt er fast entschuldigend über die neuen Doubles: „Sie müssen jetzt erst noch ein bisschen verwittern.“ Die richtige Dosis brauche es halt. Er geht ein paar Schritte zurück, schaut kritisch die Reliefs von oben bis unten an: „Die Eichenmaserung ist noch viel zu markant, sie zerschneidet regelrecht die Figuren. Ein bisschen Regen wird das Erscheinungsbild mit der Zeit weicher, harmonischer machen.“
Noch sind die kopierten Einzelteile in Schloss Nymphenburg in den Werkstätten des Restaurierungszentrums. Jeder der beiden Bildhauer hat dort einen eigenen Atelierraum in den ehemaligen Stallungen, bis vor ein paar Jahren war Oswald Senoners Werkstatt noch weiter hinten im Schlossgelände in einem kleinen Wirtschaftsgebäude untergebracht. „Ein bisschen ruhiger war es da. Hier vorne kommen viel eher Kollegen anderer Abteilungen mal vorbei und fragen, ob man ganz schnell was machen könne. Heute ist auch hier Multitasking gefragt. Es ist nicht mehr so viel Zeit wie früher, sich intensiv mit nur einem Werk zu befassen.“
Pittoreskes Reich
Wenn man Oswald Senoners Reich betritt, bleibt man am besten erst einmal stehen und lässt nur die Augen umher wandern: „Ich habe das meiste schon weggebracht“ – Zeichnungen, Schablonen, Abgüsse, Übungsstücke, Studien, Bücher, Gerätschaften: Der Bildhauer meint all die Dinge, die sich während seiner Arbeitszeit angesammelt haben und die er nun in seine private Werkstatt im Münchner Umland gebracht hat. Auch wenn es unverkennbar nach Aufbruch aussieht – es ist, als würde man eine fast pittoresk inszenierte Werkstatt betreten, wo der geheimnisvolle Kulissenzauber für großes Theater entsteht.
Ein Sägemehlhäufchen neben einem Eimer, ein Berg grober Hobelspäne unter einer Werkbank, darüber ein großes Gemälde mit bunten abstrakten Formen („Damit man mal was anderes sieht“), meterhohe und tiefgefurchte Rindenstücke neben der Tür, eine kleine Gipsputte in Nachbarschaft zu einem großen Holztorso, ein Miniatur-Holzlöwe weit oben auf einem Regal, sein um ein Vielfaches größerer Verwandter samt Beute im Maul

unter den ehemaligen Granit-Futtertrögen, wo auch Gipsmodelle von Faltenwürfen liegen. An den Wänden und auf Fensterbrettern Fragmente von Barockzier, das verkleinerte Modell einer Kaminumrandung.
Handschrift studieren
Oswald Senoner nimmt ein Holzornament von der Wand: „Das ist noch ein Original vom Cuvilliéstheater, also ein zur Bauzeit entstandenes Beispiel für die hervorragende Schnitzkunst damals. So etwas zu haben ist besser als jedes Foto. Da kann man unmittelbar die Handschrift der Bildhauer von einst studieren.“ Er nimmt ein weiteres Dekorstück von der Wand: „Sehen Sie wie dünn das ist? Nur wenige Millimeter, und außerordentlich filigran. Das erfordert schon höchste Handwerkskunst, dass da nichts ausbricht. Um so etwas hinzukriegen, braucht es viele Jahre Übung.“
Es ist eines jener Ausstattungsstücke von Oswald Senoners „Werkstattbühne“, das der Bildhauer lebhaft zum Sprechen bringt – auch über sich selbst. Die Gedanken gehen 35 Jahre zurück, zu seinem ersten Auftrag im Dienst der Schlösserverwaltung. Damals ging es um die Wiederherstellung des Miniaturenkabinetts in der Münchner Residenz – eine besondere Herausforderung für den jungen südtiroler Bildhauer, der nach seiner Lehre in Gröden nach Oberammergau und weiter zur Akademie der Bildenden Künste nach München gezogen war.
Nur von zwei Türen des Miniaturenkabinetts waren die grandiosen, sehr kleinteiligen Ornamente, die Cuvilliés selbst gezeichnet hatte, erhalten: Die direkt auf den Wänden montierte hauchdünne, artifizielle Zier aus Lindenholz für die Miniaturen waren im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Vom spärlichen Türdekor machten die Bildhauer Schablonen, dann Abgüsse: Das waren die Vorlagen fürs Rekonstruieren von rund 130 Miniaturrahmen. „Wenn ich heute vor den Wänden stehe, kann ich Ihnen genau sagen, welcher Kollege welchen Rahmen gemacht hat.“
Es geht um die Handschrift: die des Meisters von einst, und die des Kopisten von heute. Ein exaktes Imitieren des Originals ist nicht möglich – „was wir heute rekonstruieren, war von den Besten ihrer Zeit. Die kann man nicht exakt nachmachen. Was damals in spontaner Bewegung entstand, lässt sich so nicht wiederholen, man kann es nur nachempfinden.“ Das bedeutet: Studieren über studieren, einfühlen in den Künstler, in seine Epoche: „Jede Zeit hat ihre künstlerische Logik. Selbst in der Barockornamentik, wo alles nur so rauscht und wie wild aussieht, gibt es eine gewisse Ordnung, eine vorgegebene Klarheit, die man eben erkennen muss.“ Oswald Senoner zieht den Abguss einer Rahmenecke hervor: An einem Akanthusblatt erklärt er das Ordnungsschema und warum Schwünge logischerweise nur so und nicht anders ausgeführt wurden.
Wie eine Partitur
„Es ist, als hätten Sie eine Partitur vor sich“, vergleicht der Bildhauer, der auch ein leidenschaftlicher Chorsänger ist. „Jeder Dirigent und Musiker spielt die Komposition anders.“
Es geht um die Interpretation – nicht aber ums Hinzudichten: „Wer rekonstruiert und kopiert, muss sich selbst als Künstler zurücknehmen, darf nicht die Diva spielen. Man muss sich streng dem historischen Objekt unterordnen. Dieser unbedingte Gehorsam

ist nicht jedermanns Sache.“ Oswald Senoner erinnert sich an sein Akademiestudium in den Siebzigerjahren: Damals standen auch bei den Bildhauern alle Zeichen der Zeit auf Aktionskunst – „Die klassische Bildhauerei war ziemlich out. Wir waren nur eine kleine Gruppe und wurden eher als anachronistisch belächelt. Wir haben aber alle ins Leben hineingefunden, wir können vor allem mit dem gut gelernten Handwerk überzeugen.“
Zeitraubende Vorarbeit
Bronze, Ton, Stein, Holz – Abformungen in Wachs, Silikon und Gips: Im Umgang mit allen bildhauerischen Werkstoffen ist Oswald Senoner firm, rund 70 Prozent seiner Arbeiten waren allerdings vom Holz bestimmt. Er hat in dreieinhalb Jahrzehnten so Vieles für die Schlösserverwaltung gefertigt, dass es ihm regelrecht schwer fällt, fünf Besonderheiten zu nennen: Da wären seine Erstlinge fürs Miniaturenkabinett. Dann der hl. Florian für die Burg Trausnitz in Landshut (Original von Christian Jorhan d. Ä. ): Lebensgroß, aus einem Stück – „ich habe gedacht, das Punktieren hört nie auf“: Jetzt lächelt er über diese zeitraubende Vorarbeit, bei der alle Höhen und Tiefen am Original punktgenau bestimmt werden um quasi das Skelett für die Kopie zu erstellen.
Auf einen Auftrag in Bronze ist er stolz: Es sind die auf Delfinen reitenden Putten am Fuß des Münchner Friedensengels – die Originale sind wieder in Herrenchiemsee. Gerne erinnert er sich an die „Amtshilfe“ für die Stadt München: Im Alten Rathaus mussten die Deckenornamentik ergänzt und die Wappenschilder kopiert werden – das bedeutete für Oswald Senoner die Einarbeitung in einen weiteren Stil, in die Gotik und speziell in die große Leichtigkeit der Bildhauerkunst von Erasmus Grasser.
Und dann ist Oswald Senoner wieder bei den Portalen für Schloss Schleißheim – seine Abschlussarbeit für die Schlösserverwaltung, zugleich ein wegweisendes Projekt: Hier verschmelzen traditionsreiche Handwerkskunst und computergesteuerte Hightech. Die Schnitzarbeiten von

Ignaz Günther wurden in 3D gescannt – „berührungsfrei! Das schont die Originale“, freut sich Oswald Senoner. Dann hat ein Modellbauunternehmen in 3D-Technik mit CNC-Fräsmaschinen quasi Rohlinge erstellt. Diese haben schließlich Oswald Senoner und seine Kollegin Margare-tha Binapfl klassisch bildhauerisch bearbeitet.
„Wenn wir alles händisch hätten machen sollen, wäre das kaum zu bezahlen gewesen.“ Trotz dieses ressourcenschonenden Workflows: „Ohne Bildhauer geht es keinesfalls“, warnt Oswald Senoner, greift eine kleine Krippenfigur vom Regal und schimpft: „Die ist gefräst. Sie sieht doch aus wie Plastik. Da ist nichts Individuelles mehr zu sehen.“
Am Relief der Schleißheim-Portale zeigt er den Unterschied: Die Armkugel soll etwas vorgewölbter, das Spiel der einzelnen Beinmuskeln spannungsreicher erscheinen? Dann nimmt man mal die eine Feile, dann die kleinere Reibe daneben – führt die Bewegung mal mit diesem Schwung, mal mit jener Drehung aus... Fast selbstvergessen streicht Oswald Senoner über das Schnitzwerk – ein bisschen wie Pygmalion. Das gewisse Etwas kann keine Computersteuerung ersetzen – das Einhauchen der künstlerischen Seele bleibt das Metier des Bildhauers. (
Karin Dütsch)
Faszinierendes Double
Zwischen Hightech und künstlerischer Interpretation: Lesen Sie in der Mai-Ausgabe der BSZ-Beilage Unser Bayern einen umfangreichen Hintergrundbericht über die Kopie der Ignaz-Günther-Portale. Das Heft liegt der Bayerischen Staatszeitung Nr. 21 vom 27. Mai bei.
Abbildungen:Eines der prunkvollen Portale in Schloss Schleißheim: eine Glanzleistung von Ignaz Günther. (Foto: BSV)
Noch warten die kopierten Einzelteile in den Werkstätten des Restaurierungszentrums darauf, montiert zu werden. (Foto: Dütsch)
Gut 50 Jahre liegen zwischen beiden Arbeiten: Der große Löwe mit Beute im Maul stammt aus Oswald Senoners Lehrzeit. (Foto: Dütsch)
Bildhauer, die kopieren müssen sich selbst zurücknehmen und gehorsam sein, sagt Oswald Senoner. (Foto: BSV)
3D-Scan und CNC-Fräsung verkürzen den Workflow beim Kopieren - die künstlerische Seele einhauchen bleibt aber das Metier des Bildhauers. Hier eine der Portalfiguren von Schloss Schleißheim. (Foto: Dütsch)
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