Kultur

Detial einer Marienfigur (um 1480) aus dem Bayerischen Nationalmuseum. (Foto: Krack)

27.04.2018

Bewegender Auftritt

Das Bayerische Nationalmuseum zeigt eine grandiose Auswahl von Erasmus Grassers Werken

Begreift man den Altar nicht als Opfertisch, sondern als Stätte spiritueller Vertiefung, Verehrung und staunender Bewunderung, dann trifft das Bild vom „Altar der Kunst“ genial darauf zu, wie das Bayerische Nationalmuseum in Zusammenarbeit mit dem Diözesanmuseum Freising Erasmus Grasser präsentiert. Wohl rhythmisiert präsentiert mit viel Platz fürs Einzelwerk, können die Skulpturen ganz ihren suggestiven Sog entfalten – außerhalb ihres originären Bestimmungsortes freilich weniger als religiöses Erbauungs-, sondern als meisterliches Kunstwerk. So nah wird man vielen der Figuren wohl nicht mehr so schnell wieder kommen können. Es scheint, ein Großteil dessen, was man von Grasser auftreiben konnte beziehungsweise was bis jetzt der Grasser-Werkstatt zugeschrieben werden konnte, findet sich in der Ausstellung Bewegte Zeiten. Manches ist erstmals nach Jahrhunderten (zumindest fragmentarisch) wieder in seinem ursprünglichen Zusammenhang vereint. Dazu wurden nicht wenige Kirchen „geplündert“ – Grassers Kunstwerke sind in der Regel nicht in Sakristeien oder auf Speicher verbannt, sondern sind bis heute fester Bestandteil von Kirchenausstattungen, ja, sie sind gar als identitätsstiftend in manchen Hochaltar integriert. Wie der hl. Petrus aus St. Peter in München. Der Patron durfte von dort ins Museum nur reisen, weil man für die Zeit der Vakanz eine Kopie anfertigen ließ. Das meiste, was sich von Erasmus Grasser (um 1450 bis 1518) erhalten hat, ist heute in kirchlichem Besitz.

Verschollener Star

Dabei war sein erster Auftritt in der Münchner Kunstszene in den 70er-Jahren des 15. Jahrhunderts ganz und gar weltlich – begleitet geradezu von einem Paukenschlag: Auf einen solchen scheinen seine Moriskenfiguren nur gewartet zu haben, damit sie mit ihrem exaltierten Tanz aus gewagten Sprüngen und wildem Herumwirbeln anfangen können. Heißa! So tanzt das gemeine Volk! Nichts da von geziert-trippelndem Schreittanz bei Hofe! Oder war es doch nur das Possenspiel von Narren, wie eine Interpretation lautete? Erst im 19. Jahrhundert erfolgte die Zuweisung der Figuren an Grasser – aufgrund erhaltener Originalrechnungen im Stadtarchiv hätte man schon eher darauf kommen können. Aber Grasser war lange Zeit im städtischen Bewusstsein verschollen. Und das, obwohl er zu seiner Zeit ein regelrechter Star war, vor allem der bestverdienende Künstler, wie ein Steuerbuch preisgibt. Mit seinen vollplastischen Moriskentänzern liefert er zum Einstand jedenfalls eine Darstellung ab, wie man sie in der gut 13 000 Einwohner zählenden Stadt an der Isar noch nicht gesehen hatte. Die vollendete kunstfertige Interpretation der temperamentvollen Bewegung sucht bis heute ihresgleichen. Freilich hat Grasser diesen neuen Ausdruck in der Figurenwiedergabe nicht erfunden – die Forschung geht davon aus, dass er den damals weithin wirkenden Meister der verschränkten Bewegung, Niclas Gerhaert van Leyden, kannte. Auch die italienische Schule lässt grüßen. Und dann gab es nördlich des Herzogtums Bayern, im Fränkischen, ja auch noch Tilman Riemenschneider und Veit Stoß. Aber in München blieb Grasser singulär. Der Bursch aus dem (heute) oberpfälzischen Schmidmühlen, hatte jedenfalls den richtigen Riecher für das, was in der bayerischen Residenzstadt unter Albrecht IV. gefragt war – und schnappte den lokalen Kollegen (die ihn als unfriedlich, verworren und arglistig bei der Stadt anschwärzten) nicht nur den lukrativen Auftrag zum Schmuck des städtischen Tanzsaals im (heute so genannten) Alten Rathaus mit Wappenschilden, Sonne und Mond sowie den Moriskentänzern weg. Auch bei der Ausgestaltung der neu erbauten Frauenkirche, die 1494 geweiht und vom Herzog zur Hofkirche ausgebaut wurde, zog er das große Los: Seine Werkstatt sorgte für die umfangreiche skulpturale Ausstattung. Allein 170 Figuren fürs Chorgestühl!

Aufträge weggeschnappt

Freilich hatte Grasser bis zu diesem Renommierprojekt schon manch anderes Meisterstück für den sakralen Raum abgeliefert: Allen voran sei das Heilig-Kreuz-Retabel für die (mit den Wittelsbachern sehr eng verbundene) Wallfahrtskirche Maria Ramersdorf genannt – dieses steht auch in der Ausstellung. Wunderbar lässt sich in der Zusammenschau beobachten, wie Grasser seine expressive Figurendarstellung der Morisken beibehielt, wenn auch durch die nicht rundplastische Ausarbeitung und dem religiösen Kontext angemessen in dezenterem Ausdruck: Wie bei einem Tableau vivant zieht die Menschenmenge den Betrachter mitten hinein ins Geschehen rund um den Gekreuzigten. Trotz der Vielzahl an Figuren, die, wie beim Münchner Chorgestühl, wohl seriell-ähnlich in der Grasser-Werkstatt geschnitzt wurden, war für den Primus inter Pares der örtlichen Szene die individuelle Ausgestaltung wichtig. Körperhaltung, gestikulierende Hände, Mimik: Für jeden der Propheten, Apostel und Großen aus dem Alten und Neuen Testament im Chorgestühl suchte er die theologisch begründete und geradezu psychologisierende Charakterisierung. Gut 40 dieser Halbbüsten haben die Kuratoren der Frauenkirche abspenstig gemacht: Dass man den Figuren – anders als in der Frauenkirche – nun fast in die Augen schauen kann, dass man sich gleichsam als Zaungast einer überzeitlichen Gesprächsrunde im theologischen Disput wähnt, überzeugte die Leihgeber.

Typische Mimikfalten

Anders als bei sonstigen Aufträgen sind diese Figuren als Bestandteile von Möbeln (das Originalgestühl ist verloren gegangen) wohl nie gefasst gewesen. Entsprechend subtil folgt die Schnitzkunst dem Material, nimmt Maserungen in die Gestaltung auf: wenn etwa just auf den Höhungen der Wangenknochen die Holzlinien in Kreisen verlaufen, wenn langgezogene Maserungen markant hervortretenden Mimikfalten folgen. Charakterisierende Gesichtsfalten waren neben seitlich abfallenden Augenbrauen, häufig einfallenden Wangen und markanten Kinnbärten eines der typischen Markenzeichen von Grassers Handschrift: Falten waren entweder wie Grate aus dem Holz herausgearbeitet, ins Holz hineingeschnitzt, oder später in die Fassung geritzt. Fassungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in der Grasser-Werkstatt ausgeführt worden. Die Forschung geht von der Zusammenarbeit mit einem anderen Granden der Szene aus: Mit Jan Pollack. Dass vieles zum Werk Grassers im Ungefähren, Spekulativen ist, liegt vor allem daran, dass nur ein einziges Werk, nämlich ein Romarmor-Epitaph aus St. Peter, von ihm namentlich gezeichnet ist. Vieles, auch in Kirchen außerhalb Münchens, galt über Jahrhunderte als Inventar „unbekannter Hand“ – auch das wohl ein Grund für die lange währende Missachtung von Grassers Leistung für die Bildhauerkunst seiner Epoche – die sich eben nicht auf die Moriskentänzer beschränkt, auch wenn diese inzwischen im städtischen Bewusstsein identitätsstiftend gleich neben dem Münchner Kindl verankert sind. Die erste monographische Schau ist eine überfällige Wiedergutmachung – und ein furioser Schlusspunkt der Ära Renate Eikelmann: Die Generaldirektorin verlässt aus Altersgründen im Juli das Nationalmuseum. (Karin Dütsch) Information: Bis 29. Juli. Bayerisches Nationalmuseum, Prinzregentenstraße 3, 80538 München. Di. bis So. 10-17 Uhr, Do. 10-20 Uhr. www.bayerisches-nationalmuseum.de Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog mit Beiträgen zur Zeitgeschichte und dem Werk Grassers. (Hirmer Verlag, München, 408 Seiten, 39 Euro. ISBN 978-3-7774-3057-7 Abbildungen:
Der Moriskentänzer „Zauberer“ (1480) aus dem Münchner Stadtmuseum. (Foto: Adler, Jank)
hl. Petrus (um 1490) aus der Münchner Pfarrkirche St. Peter. (Foto: Weniger)

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