Kultur

177 Rollen, von vier Schauspielern gestemmt (hier Karen Dahmen und Bettina Langehein. (Foto: Marion Bührle)

18.12.2015

Der Kapitalismus schlägt Kapriolen

Aberwitzig: "~[ungefähr gleich]" am Staatsschauspiel Nürnberg – ein Stück über gesellschaftliche Fallhöhen

„Denn die einen sind im Dunkeln/Und die andern sind im Licht“, dichtete einst der sozialkritisch eingestimmte Bertolt Brecht in seiner Moritat von Mackie Messer, die er vorsichtshalber in einer Dreigroschen-Oper versteckte, weil er damals schon, 1928, dem Bühnenrealismus misstraute. Heute, wo die Ungerechtigkeiten der viel beschworenen sozialen Gerechtigkeit eher zugenommen haben, kommt man dem Sozialrealismus auf dem Theater noch weniger bei und flüchtet auf den Bühnen in ein geistloses Zeit-Geist-Theater: wie jüngst in Nürnberg mit Christoph Nußbaumeders Das Fleischwerk oder in Erlangen mit Davide Carnevalis Sweet Home Europa. Jetzt aber zeigt das Staatstheater Nürnberg, dass sich auch dem medial noch so abgewetzten Zeitgeisttheater sogar komödiantische, ja absurde Seiten abgewinnen lassen, die das Publikum begeistern. Zwar stolpert man über den unaussprech- wie unschreibbaren Titel „~[ungefähr gleich]“, doch dann entpuppt sich das Stück des schwedisch-tunesischen Autors Jonas Hassen Khemiri als eine ebenso intelligente wie phantastische Kapitalismus-Kritik, die nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit irrsinnigem, ins Groteske gesteigertem Aberwitz daherkommt.

Vier Schauspieler in 177 Rollen

Und dem setzt im Studio des Nürnberger Schauspielhauses Regisseur Christian Papke mit einer ebenso einfalls- wie abwechslungsreichen Inszenierung noch die Krone auf, wenn er die 26 Szenen mit ihren angekündigten 177 Rollen von vier Schauspielern mit zirzensischer Rasanz und halsbrecherischer Akrobatik über die schmale Bühne jagt. Die hat Bühnenbildnerin Thays Runge mit allerlei Aluminium-Gestellen- und Gestängen, mit Podesten, heb- und senkbaren Podien und einer Wippe in ein futuristisches Fitness-Studio verwandelt, in dem die Schauspieler bei waghalsigen Stunts Kopf und Kragen riskieren. Wobei die Schauspieler Thomas L. Dietz, Christian Taubenheim, Bettina Langehein und Karen Dahmen in rasendem Tempo die Rollen wie die Kostüme und die Stimmlagen wechseln, um das Sozialmilieu der Armen und der Reichen, der da Oben und der da Unten zu illustrieren und hautnah vorzuspielen oder auch mal mit Songs und Liedern, mal Solo, mal im Chor, zu singen.

Sturz ins Dunkel der Utopie

Die gesellschaftliche Fallhöhe ist enorm: vom Ökonomie-Professor zum Obdachlosen; von der Managerin zur Tabakwaren-Verkäuferin, die sich ihr schmales Gehalt heimlich aus der Ladenkasse aufbessert; vom Studenten mit Prädikatsexamen, der dann doch arbeitslos im Job-Center landet, bis zur verarmten Alten Frau. Jeder ist in dieser gnadenlosen Leistungsgesellschaft seines Glückes Schmied, auch wenn er buchstäblich unter die Räder des Systems bzw. eines Autos gerät. Wenn es das Stück nicht hergibt, rettet sich die Inszenierung geschickt ins Absurde und lässt den Kapitalismus Kapriolen schlagen, gipfelnd in der Antrittsrede des angehenden Professors, der sich seiner idealistisch-utopischen Anfänge erinnert, sich vom revolutionären Pathos des Sozialromantikers hinreißen lässt und zum Kampf gegen den Kapitalismus aufruft. Womit er seinen gerade erst hoffnungsvoll gestarteten Akademiker-Job los und wieder arbeitslos ist. Aber in seinen visionären Halluzinationen vom Ende des Kapitalismus kann er ja fliegen – und stürzt sich vom Hochhaus in die erträumte Zukunft, in das Dunkel seiner Utopie. Begeisterter Beifall. (Fridrich J. Bröder)

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