Kultur

Anders als im realen Theater sitzt das Publikum bei 360-Grad-Produktionen nicht getrennt vom Bühnengeschehen vor der sogenannten vierten Wand, sondern wird mitten ins Geschehen hineingezogen – und muss dann auch schon mal aus einem Hühnerstall herausgezogen werden, wie in der Augsburger Virtual-Reality-Inszenierung von "Oleanna". (Foto: Heimspiel)

01.04.2021

Entgrenzung des Bühnenraums

Das Staatstheater Augsburg macht es vor: Wie Virtual-Reality-Produktionen die Möglichkeiten der Theater vergrößern können

Das Staatstheater Augsburg tut es seit Längerem, das Schauspielhaus Graz inzwischen auch. Es entwickelt sich da womöglich eine neue Sparte, die für viele Theater interessant sein könnte: Es geht um den Theaterbesuch zu Hause – und zwar um einen, der sehr nah dran am Geschehen sinnliches Erleben ermöglicht, als ob man wirklich mittendrin auf der Bühne säße. Es geht um Theater und virtuelle Wirklichkeit (Virtual Reality, VR).

Man sitzt kommod zu Hause, egal ob auf einem Stuhl, einem Sofa oder auf dem Boden, setzt sich eine VR-Brille auf, und befindet sich schnell inmitten eines Theaterstücks, das einen im 360-Grad-Modus umgibt. Es ist nicht zuletzt die junge Firma First-row in München, die diese Aktivitäten fördert und unterstützt.

Dort, wo sich draußen vor den Fenstern des Betriebsgebäudes von Firstrow schallgeschützt still und dennoch betriebsam die Autos und Lastwagen auf dem Mittleren Ring entlangschnüren, arbeiten drinnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Aufspielen von theatralem Informationsfluss auf die Brillen, die von hier aus deutschland- und österreichweit verschickt werden. Die Firma kümmert sich in München und in Barcelona um alles Organisatorische und berät die Theater bei der Produktion, sagt Henning Förster von Firstrow. Das Staatstheater Augsburg hatte anfangs die Organisation selbst bewältigt, aber die Zusammenarbeit mit den Münchnern ermöglicht nun den viel größeren und weitreichenderen Vertrieb von Werken wie der Monologe Event und 14 Vorhänge, von Tanzstücken wie Boléro und Shifting_Perspective oder des dialogisches Stücks Oleanna. Aus Graz bietet Firstrow die Virtual-Reality-Erfahrung Krasnojarsk: Eine Endzeitreise in 360° an, in der es um zwei Menschen auf einer nahezu vollkommen vernichteten Erdoberfläche geht.

Schnell zeigt sich, wie diese virtuelle Wirklichkeit die Möglichkeiten dramaturgischen Erzählens weiterentwickeln kann, wie auch die bühnenbildnerischen Herausforderungen durch den 360-Grad-Blickwinkel völlig neue Herausforderungen und Variationsmöglichkeiten mit sich bringen.

Das gilt auch für die Regie und Erzählweisen. Es macht einen Unterschied, ob das Publikum vor der vierten Wand im Theater sitzt oder sich einzeln und individuell mitten im Geschehen befindet und dann sogar ins Geschehen integriert werden kann wie in Oleanna, wo die Zuschauerin oder der Zuschauer im dritten Akt erst einmal gesucht und dann aus einem Hühnerstall gezogen werden muss. Da wird man wortwörtlich gepackt.

Rundum und ohne Schnitt

So entstehen neue kreative Prozesse. Rundumkameras fangen das Geschehen ohne Schnitt ein. Dieses Prinzip und das Eins-zu-eins-Durcherzählen ermöglicht zumindest eine Annäherung an den Live-Charakter der Aufnahmen.
Firstrow mit seinem derzeit rund zehnköpfigen Team, ist ursprünglich entstanden, um Kunden in Bussen und Bahnen während langer Reisen mit VR-Unterhaltung zu bedienen. Mit der Corona-Pandemie kam dann schnell die Idee, den Service auf die Kulturbranche auszuweiten. VR geht im Prinzip auch mit bildender Kunst; begonnen hat man allerdings mit dem Theater: Da trifft VR-Know-how auf die Lust am Bühnenspiel und auf Experimente. Mit den Augsburgern hat man angefangen: Theater zur Kundschaft zu bringen. Inzwischen sind mehr als 1200 VR-Theateraufführungen an Zuschauerinnen und Zuschauer in Deutschland und Österreich verschickt worden. Man erreicht damit alle Altersgruppen: Ein Drittel ist zwischen 18 und 39 Jahre alt, ebenfalls ein Drittel der Nutzerinnen und Nutzer ist zwischen 40 und 60 Jahre alt und ein weiteres Drittel über 60 Jahre. Das Feedback ist ausgesprochen gut. Manchmal liegen den rückgesendeten Päckchen mit den benutzten Brillen sogar Dankesbriefe bei. „Das hat Spaß gemacht. Herzliche Grüße aus Magdeburg“, heißt das dann beispielsweise.

Der Postversand der Brillen vergrößert das Publikumspotenzial. Dies könnte für kleinere Häuser auch den Ausbruch aus der regionalen Beschränkung bedeuten. Und Menschen, die das Haus nicht verlassen können, hätten ebenfalls die Option eines halbwegs sinnlichen, emotionalen Theatergangs.

Mit der virtuellen Realität tut sich also für die Bühnenkunst ein Fenster auf, das auch nach Corona weiter bespielt werden kann. (Christian Muggenthaler)

Information: www.vr-firstrow.com

 

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