Kultur

Autor Heiner Müller wacht wie ein Übervater über dem eindringlichen Szenenbild mit Christian Erdt, Nora Buzalka, Franz Pätzold, Alfred Kleinheinz und Marcel Heuperman. (Foto: Konrad Fersterer)

05.05.2017

Flirt mit Archetypen

Oliver Frljic inszeniert Heiner Müllers "Mauser" am Staatsschauspiel als ausdrucksstarkes Gewaltballett

Es war dann doch eher Aktionskunst als Heimatabend, trotz lustiger Holzhackerbuam: Da stehen vier Schauspieler (drei Männer, eine Frau) splitternackt auf der Bühne, jeder vor sich einen Hackstock, und dreschen mit Äxten auf schwere Rundlinge ein, bis sie krachend zersplittern. Auch wer nie Holz gehackt hat, also nicht weiß, wie lustvoll solches Berserkern sein kann, dürfte der Faszination dieses Bildes erliegen. Wuchtig, brutal, aber auch saukomisch wird das Elementare der Gewaltsamkeit zelebriert und parodiert zugleich. Dass dieser Flirt mit dem Archetypischen sehr gut zu Heiner Müllers Revolutionsdrama Mauser passt, das am Münchner Residenztheater (Marstall) Premiere hatte, ist so überraschend nicht. Das Lehrstück handelt von einem russischen Revolutionär, der als Chef eines Tribunals die Feinde der Revolution wie am Fließband exekutiert. Bis nach zehn Tagen „Platz nahm zwischen Finger und Abzug der Zweifel“, wie es bei Heiner Müller heißt. Durch diese Schwäche wird der Henker aus Sicht der Partei selbst zum Feind der Revolution und als solcher liquidiert – durch einen Nachfolger, den wenig später das gleiche Schicksal ereilt.

Irrwitziges Paradoxon

Im Grunde umkreist der Text damit die alte moralphilosophische Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt, die hier in dem irrwitzigen Paradoxon auftritt, dass für eine künftige „menschliche“ Gesellschaft zutiefst unmenschlich gemordet wird. Als Heiner Müller das Stück 1970 in der DDR schrieb, war es natürlich auch der Versuch einer Aufarbeitung des damals noch nicht gar so lange zurückliegenden Stalinismus. Von diesem konkreten Zeitbezug hat es Oliver Frljic in seiner zurecht mit Spannung erwarteten Inszenierung sinnvollerweise befreit. Die Kostüme (Sandra Dekanic), lange rote Gehröcke sowie Sansculotten-Hosen, erinnern eher an die Französische Revolution, aber auch an die Inquisition, und gelegentlich wird neben liturgischen Chorälen leicht verfremdet die Marseillaise eingespielt. Der Text besteht aus wiederholten Sentenzen mit dem typischen Heiner-Müller-Pathos zwischen grammatischer Verrenkung und lapidarer Einfachheit: „Wissend, das tägliche Brot der Revolution ist der Tod ihrer Feinde.“ Zu diesem kunstvollen Vers-Gedröhne gibt’s ein so schweißtreibendes wie ausdrucksstarkes Gewaltballett, bei dem Christian Erdt, Marcel Heuperman, Franz Pätzold und Nora Buzalka die Rollen von Tätern und Opfern ständig durchwechseln, mal als Leichenberg herumliegen, mal wortwörtlich über Leichen gehen.
Es ist freilich nicht immer leicht zu ertragen, dieses Theater des Oliver Frljic. Denn die Inszenierungen des Kroaten, der gerne als Skandalregisseur apostrophiert wird, zeichnen sich durch eine buchstäblich physische Intensität aus, die teilweise auch gewollt abstoßend wirkt und quasi über den Umweg des Leibes die seelische Schmerzgrenze des Zuschauers überschreitet.

Körperlich erahnbar

So knien in einer Erschießungsszene die drei Opfer vor einem Stacheldrahtzaun, auf dessen anderer Seite der Henker steht und ihnen nacheinander den Pistolenlauf in den Mund schiebt, bis sie würgen müssen. Der Horror solcher Gewalttaten wird damit viel deutlicher, eben körperlicher erahnbar, als bei allem pseudorealistischen Platzpatronengeknalle. Hinter diesen heftigen Bildern für Entmenschlichung und Erniedrigung wacht der Übervater: Ein riesiges Porträtfoto Heiner Müllers mit Zigarre füllt die vernebelte Raumhöhe. Am Ende steht der Autor als Eisbüste auf einem Sockel inmitten der Bühne – bis Nora Buzalka mit einer Axt das Eis zertrümmert. (Alexander Altmann)

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