Kultur

Auch nachts begeisterten die Künster das Publikum. (Foto: Spiegelhof Fotografie)

04.07.2022

Fulminantes Ende

Das Nürnberger Format der Musica Sacra

DAS NÜRNBERG-FORMAT DER MUSICA SACRA

Schon vor dem ausverkauften Finale in St. Lorenz steht fest: 25 Prozent mehr Besucher beim „Musikfest ION“ in Nürnberg als vor Corona. Da kann Intendant Moritz Puschke schon mal das Sakko anziehen: für den Innenminister, den Oberbürgermeister und für diese Erfolgs-ION. Die ging am Wochenende mit einem Westentaschen-Bach und einem traditionell groß besetzten „Paulus“ von Felix Mendelssohn Bartholdy fulminant zu Ende.

Besser hätte Puschke nicht planen können und bedient wie schon in den neun Tagen zuvor und die ganze Musikfest-Woche über die diversen Vorlieben der Musica-sacra-Liebhaber. Nachmittags, nachts, ein immenses Angebot, herbeigeholt aus  London, Berlin oder von den Ingolstädter „Sommerkonzerten“, wo der „Paulus“ tags zuvor Premiere hatte. Hier wie dort: Martin Steidler ließ schon in der Ouverture alles aufrauschen, was nur „romantisch“ sein kann, die „Akademie für Alte Musik“ kommt mit historischem Instrumentarium (sogar einem Serpent), die „Audi-Jugendchorakademie“ (beileibe kein Kinderchor) sind schon im gewaltigen Vorspiel und dann in den drei  Abschnitten dieser Apostelgeschichte eine optimale Besetzung: für das erste große christliche Oratorium vor „Elias“ und dem geplanten „Christus“ mit den vielen Rückgriffen auf Bach, mit „Erzählern“ statt „Evangelisten“, einem von Chorälen unterbrochenen narrativen Fluss und vielen Perspektivwechseln: agierend, erzählend, kommentierend mit der dramatischen Schlüsselszene der Bekehrung des Saulus im Mittelpunkt. Bis hin zum Chor als „Stimme der Christenheit“ ist das ein chortrunkenes Stück, deutlichst aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier bei der ION mit wunderbaren SängerInnen (Christiane Karg allen voran, Carmen Artaza, Werner Güra und Matthias Winckhler in der Titelpartie) und noch nicht mit dem Furor des alttestamentarischen  „Elias“: ein Stück, das einen an Kolonialismus, weltweite Missionierung  denken lässt – also nicht nur ein schwelgerischer Musikgenuss und 24 Stunden nach dem Gegenteil einer „Messe en miniature“.

Intendant Moritz Puschke kennt sie schon lange, jetzt kam Elina Albach zum wiederholten Male zur ION: die Frau, die mir ihrem Ensemble „Continuum“ neue Präsentationsformen besonders für Barockes sucht – gerade mal dreißig, aus Berlin, 2018 schon für ihre erste CD mit einer Nominierung für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. „Eine neue Aufnahme müsse nur einspielen, wer auch etwas Neues zu sagen habe“, meint Albach, steht an Orgel und Cembalo, in sanftem Lindgrün und mit der Erinnerung an die alten Zeiten des Taverner-Consort. War Puschkes „Eine sehr besondere Aufführung“ eine Warnung vor diesem zwei schwebenden Stunden Bach, mit der geradezu körperlich empfindbaren,  schier endlosen Verzweiflung des Sprechers Thomas Halle dazwischen (wofür Messe-Teile weichen müssen) und mit dem Zweifel, ob diese Fassung denn nun etwas Neues oder eine weitere Annäherung an den authentischen Bach sein soll: mit diesen Texten, die sich ins Bewusstsein der Zuhörer krallen, mit den geradezu teppichartig verwobenen Vokal- und Instrumentalstimmen, die (etwa die Violine) nur vogelartig zirpen.

Der Schlagzeuger streichelt sanft über seine Vibraphone – ein zartes Gespinst. Selten sind da solche Effekte eingebaut wie ein von weither heranmarschierender Landsknechts-Trommelton. Der dauerverzweifelte Beter spricht von Massengräbern, der Trommler spielt zum Glaubensbekenntnis. Bei Albach wird diese h-moll-Messe zu einem Erlebnis von egaliserendem Zugriff von fortwährender Innerlichkeit, man fühlt sich wie bei einer Begräbnisfeier im Baumgarten: mit wenig mehr als einer Handvoll von SängerInnen und genauso vielen Instrumentalisten, mit dem Verzicht auf Bachs Dramaturgie und Dramatik: der Zeitgeist weht in diesem neuen Barockdesign. Auch in einer „Johannespassion zu dritt“ von Elina Albach nach J. S. Bach: sicher mit Absicht zeitlich nahezu parallel zur üppigen  „Paulus“-Authentizität platziert: mehr Personen passen auch nicht in die Tafelaltäre von St. Sebald nicht hinein. Und Nürnberg ist zurück im internationalen Festspielkalender.
(Uwe Mitsching)

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