Im November 1945 begann in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptangeklagten des NS-Regimes. Die USA, Großbritannien, Frankreich und die UdSSR stellten die Richter. Einer von ihnen war Francis Biddle. Der Amerikaner logierte während des Prozesses in der Villa Grünthal. Als er ging, macht er seinen Wirtsleuten ein ungewöhnliches Geschenk. Vor Kurzem wurde es wiederentdeckt.
Ella konnte Englisch. Und sie konnte phantastisch kochen. Was sie da aus ihrer hochherrschaftlichen Küche im Keller des Schlösschens hinauf auf den Salontisch brachte, verzauberte Honorable Francis Biddle – so sehr, dass er der exzellenten Köchin zum Abschied ein Geschenk machte: ein Erinnerungsalbum.
Nein, Fotos von fröhlichen Menschen, die bei unbeschwerten Festen Vorzügliches tafeln, findet man nicht darin. Stattdessen zeigt ein Stillleben einen Blechnapf mit weißer Pampe, dazu drei halbe Scheiben trocken Brot. Und zu der Runde, die da auf schäbigen Klappstühlen an einem kleinen undekorierten Tisch bei kärglichem Mahl zusammensitzt, möchte man auch nicht gerade gehören – obwohl es sicher interessant sein könnte, zu hören, was sich die Herren da zu sagen hatten: Karl Dönitz, Hans Frank, Baldur von Schirach und (vermutlich) Alfred Rosenberg hocken da, vorne gleich Hermann Göring.
Es war noch nicht seine Henkersmahlzeit – die Aufnahme entstand in einer Pause der Nürnberger Prozesse (November 1945 bis April 1949), bei denen die Hauptkriegsverbrecher vom Internationalen Militärgerichtshof abgeurteilt wurden (1. Oktober 1946).
Hinter den Kulissen
Die meisten Fotos in diesem Album zeigen Momentaufnahmen aus dem Prozessalltag – neben heute bekannten, oft veröffentlichten Motiven sieht man aber auch nur wenig publizierte Situationen, und Eindrücke von Szenen „hinter den Kulissen“, von der Logistik des Tribunals.
Zum Beispiel, wie überhaupt der legendäre Schwurgerichtssaal 600 im Justizpalast Nürnberg für den Prozess vorbereitet wurde, wie die Schreiner die Anklagebank zimmern, wie Elektriker den Saal aufrüsten, wie das Wandpaneel angebracht wird, auf dem später in Vergrößerung Beweismittel zu sehen sein werden: eine Landkarte mit den lokalisierten Konzentrationslagern, Fotos von Erschießungen und vom Warschauer Ghetto, Ausschnitte von der Hetzschrift Der Stürmer.
Süßes für Zwischendurch
Man blättert durch das Album, sieht eine Delegation vor einer Transatlantikmaschine – vielleicht die Ankunft von Richtern, Anklägern und Prozessbeobachtern aus Amerika? Fotografisch festgehalten ist, wie einzelne Richter das Nürnberger Justizgebäude betreten, wie es in der Kantine zuging, wo freilich die Angeklagten keinen Zutritt hatten: adrett in gestärktem Weiß gekleidetes Personal, mehrgängiges Menue auf Tabletts, ein üppig bestückter Stand, an dem man sich mit Zigaretten und Süßigkeiten eindecken konnte.
Dann wieder stößt man auf ein Foto von Ernst Kaltenbrunner, wie er im Rollstuhl geschoben wird, als sei er ein Invalide: Der ehemalige hohe SS-Funktionär und Leiter des Reichssicherheitshauptamtes war nach einer Gehirnblutung mit einigen Tagen Verspätung auf der Anklagebank erschienen; er hatte kritisiert, dass er während seiner Vernehmung in England misshandelt worden sei.
Fotos von der Bank, auf der die Hauptangeklagten während der Prozesse saßen, sind bekannt – hier wurde aber auch eine Detailaufnahme eingeklebt, die Hermann Göring und Rudolph Heß einträchtig unter einer wärmenden Decke zeigt.
Andere Fotos führen in den Gefängnishof, in die Gänge vor den stark bewachten Zellen, halten den Moment fest, wie Wachpersonal einem Insassen den Besen durchs Fensterchen der schweren Zellentür schieben, damit er fegen kann. Man sieht, wie die Zellen innen ausgesehen haben – mal mit Blick von der Tür Richtung vergittertem Fenster, mal in Gegenrichtung mit Blick auf die Toilettennische: einem mittelalterlichen feuchten Kerkerloch nicht unähnlich. Man erinnert sich unwillkürlich an Propagandafotos von rauschenden Festen und pompösen Auftritten der einstigen Nazi-Bonzen: ein tiefer Fall.
Beispielhaft sind Fotos einer Gesprächssituation zwischen Angeklagtem und Verteidiger eingefügt: Es ist der ehemalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach mit bewaffneten Beobachtern auf der einen Seite und Fritz Sauter auf der anderen Seite des Gitters; Schirach schielt auf ein Schriftstück, das der Anwalt durch einen Schlitz schiebt – zuerst bekommt es aber der Uniformierte neben ihm.
Der Blick des Fotografen geht auch nach draußen: die Fassade empor, wo mit weißer Farbe die Zellen durchnummeriert sind, damit man auch von Außen gleich weiß, wer wo einsitzt. Man sieht auch das zerstörte Nürnberg – geradezu wie pittoreske Veduten nehmen sich diese Ruinenfotos aus.
Rarität im Wirtschaftsarchiv
Es ist ein merkwürdiges Geschenk – genauso ungewöhnlich ist sein heutiger Aufbewahrungsort: Es wird vom Bayerischen Wirtschaftsarchiv in München verwahrt. Es ist eher ein Zufallsfund: Archivar Richard Winkler entdeckte den 115 Seiten schweren Band (34 mal 27 cm) mit den Schwarzweißfotos (meistens im Format 23 mal 18 cm) im Nachlass von Peter Conradty, den das Wirtschaftsarchiv 2014 übernahm. Dieses Konvolut ist mit 40 Regalmetern einer der größten Firmenbestände im Magazin des Wirtschaftsarchivs: eine wunderbare Fundgrube für die Geschichte des einst von Conrad Conradty in Nürnberg als Bleistift- und Bronzefarbenfabrik gegründeten Unternehmens, das seit 1880 vom fränkischen Röthenbach aus zum Globalplayer für Spezialkohlen und Elektrografit aufstieg, 2004 aber Insolvenz anmeldete.
Firmenvilla requiriert
Der Bestand ist üppig: eine umfangreiche Patentsammlung, Ordner um Ordner voller Geschäftsbriefe, Schadensdokumentationen, üblichen Betriebsunterlagen (bis 1980) – dazwischen ein Bündel Bleistifte, noch ungespitzt und mit Banderole zusammengehalten (die Bleistiftproduktion wurde bereits 1889 eingestellt), einige Rollen Notgeld aus schweren Grafit-Talern, Fotos, Dias, Filme, eine riesengroße Aquarellansicht des Fabrikgeländes...
Darauf ist auch die hübsche Villa Grünthal samt weitläufigem Wald und Jagdgebiet zu sehen – ein Herrschaftsgebäude, das schnell ins Visier der Amerikaner geriet, als sie 1945 nach unversehrten Unterkunftsmöglichkeiten für die Prozessbeteiligten suchten. Die Villa wurde requiriert. Und Francis Biddle (1886 bis 1968) zog dort als einer der Gäste auf Zeit ein – er war der amerikanische Hauptrichter in den Nürnberger Prozessen.
Ella war die zwangsweise zur Gastgeberin „abkommandierte“ Hausherrin: Ella Conradty (1889 bis 1978), die Ehefrau von Firmenchef Eugen, die nach dessen Tod ab 1948 resolut und erfolgreich das Unternehmen weiterführte, ja, eine der bedeutendsten bayerischen Unternehmerinnen wurde. Die Bewirtung der einquartierten Prominenz wird ihr nicht schwer gefallen sein: Sie hatte früher in Londons Hotellerie gearbeitet.
Ein Unikat?
Ist es ihre Schrift, die in Bleistift im Fotoalbum, das ihr der Richter schenkte, ab und zu Namen und Funktionen notierte? Hat der Richter ihr die Innenansichten aus dem legendären Prozess erklärt? Weshalb hat sich Francis Biddle überhaupt von dem Album getrennt? Besaß er vielleicht mehrere Ausgaben von dem Band, der in weinrotem Kunstleder mit Goldprägung („The Nurnberg Trial“, rechts unten „Honorable Francis Biddle“) in einem Schuber steckt?
Allzuviele Exemplare dieser Alben kann es nicht gegeben haben: Der Inhalt ist nicht gedruckt, jeder Fotoabzug ist von Hand eingeklebt worden. Hat jeder der Hauptrichter ein solches, möglicherweise individuell zusammengestelltes Album bekommen – vielleicht vom Fotografen Charles W. Alexander selbst arrangiert und überreicht? Wo sind vergleichbare Alben? Maß ihm Francis Biddle als Erinnerungsdokument vielleicht gar keine so große Bedeutung bei? Das könnte man sich gut vorstellen: Er taucht ja in vielen Dokumentationen über die Nürnberger Prozesse auf, in Wort und Bild.
„Es ist ein Album mit vielen Fragen“, sagt Eva Moser, die Leiterin des Bayerischen Wirtschaftsarchivs – beantworten können sie und ihre Kollegen inzwischen viele Fragen zur früheren Besitzerin des Bandes, Ella Conradty. Was aber den Inhalt angeht, legt Eva Moser diesen Archivschatz gerne Kollegen und Interessierten anderer historischer Forschungsgebiete vor.
Chef der Pressemeute
Das Fotoalbum ist auch ein interessantes mediengeschichtliches Dokument. Das Tribunal war damals auch als Presse-Spektakel inszeniert – die Öffentlichkeit sollte wissen, um was es ging. Das interessante an dieser Fotoauswahl für das Album von Francis Biddle sind nicht nur Aufnahmen, die mehrmals den Richter selbst zeigen, sondern die Perspektive: Viele Situationen sind in nächster Nähe entstanden. An den Esstisch der Hauptangeklagten während einer Prozesspause oder auch an Erich Kaltenbrunner im Rollstuhl wird wohl nicht eine große „Pressemeute“ herangelassen worden sein.
Zweifelsohne hatte Fotograf Charles W. Alexander privilegierten Zugang – er firmierte als „director of photography for the trial“. Gleich nach Urteilsverkündigung gegen die Hauptangeklagten am 1. Oktober 1946 veröffentlichte er Bildbände: Justice at Nuernberg wurde in Amerika gedruckt und dort für fünf Dollar verkauft, darin sind auch einige der Motive, die im Biddle-Album eingeklebt sind. Im Selbstverlag veröffentlichte Alexander zudem einen Band Nurnberg mit 50 Fotografien, darunter ebenfalls Aufnahmen von den Prozessen. Im Internethandel sind das nach wie vor gefragte Bilddokumente der Nürnberger Prozesse. (Karin Dütsch)
Bayerisches Wirtschaftsarchiv (IHK-Akademie), Orleansstraße 10 – 12. 81669 München. Mo. bis Do. 8.30 - 16.30 Uhr, Fr. 8.30 – 15 Uhr; Voranmeldung erforderlich.
www.bwa.findbuch.net/home
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