Kultur

Niels Bormann in "Der Kaufmann von Venedig". (Foto: David Baltzer)

16.10.2015

Gediegen-arriviertes Avantgarde-Theater

Saisonstart der Münchner Kammerspiele mit „Der Kaufmann von Venedig“, „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“ sowie „Yesterday you said tomorrow“

War es die Berliner Luft, ein frischer Wind oder nur heiße Luft, was der neue Münchner Kammerspiel-Intendant Matthias Lilienthal von der Spree an die Isar mitbrachte? Nach der Spielzeit-Eröffnung kann man sagen: es war ein bisschen was von allem.

Eine Hakenkreuz-Armbinde darf nicht fehlen. Ebensowenig wie alberne Vampirzähne, Mädels im Mieder und eine Rumpelkammerbühne: Tische mit Laptops deuten ein Großraumbüro an, ein Flipchart mit Aktienkursen zeigt, dass hier der Kapitalismus tobt, und englische Übertitel machen klar, dass das alles, vom Antisemitismus bis zum Klamauk, nur Zitat ist, das wissend-ironische, manchmal melancholische Spiel mit den gängigen Versatzstücken unseres medial imprägnierten Bewusstseins.

Wenn diese Eröffnungspremiere eine Visitenkarte der Intendanz von Matthias Lilienthal war, dann erwartet uns an den Münchner Kammerspielen gediegen-arriviertes Avantgarde-Theater. Denn der neue Hausregisseur Nicolas Stemann, der zum Saisonstart Shakespeares Kaufmann von Venedig als impressionistische Tragikomödie inszenierte, ist ja keine Neuentdeckung, sondern einer der profiliertesten Theatermacher im deutschsprachigen Raum.

Folglich macht er das, was profilierte Regisseure heute eben so machen – und was ja auch oft zu spannenden Ergebnissen führt: Feste Rollen gibt es nicht, der Text ist nach dem Gießkannenprinzip auf sechs Akteure aufgeteilt. Hier brillieren – mal saukomisch, mal verstörend – neben den bewährten Kammerspielern Walter Hess und Thomas Schmauser (der in Lederkluft als Fassbinder-Double auftritt) vor allem die Neuzugänge Niels Bormann und Julia Riedler die sich als echter Gewinn für das Ensemble erweisen. Dass Hassan Akkouch und Jelena Kuljic´ gelegentlich Arabisch und Serbisch sprechen, ist stimmiger Teil des Regiekonzepts. Denn Stemann nimmt eine Musikalisierung des Textes vor, der mal als jazziges Geplauder daherperlt, mal als vielstimmige Kakophonie kreischt.

Indem die Schauspieler verschiedene Tonlagen ausprobieren und dann überblenden, entsteht ein spannungsvolles Palimpsest der Attitüden, der ineinander geschnittenen Motiv- und Assoziationsfelder. Wobei man oft nicht mehr genau sagen kann, was davon schon bei Shakespeare angelegt ist und was unserer heutigen Wahrnehmung, Einstellung, Erwartung entspringt. Aber genau das macht den spezifischen Reiz der Aufführung aus.

Persönliche Erlebnisse mit „Mein Kampf“

Es darf gelacht werden, hieß es dann auch bei der Premiere von Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2, einer Produktion des renommierten Dokumentartheater-Labels Rimini Protokoll, das immer eine sichere Bank ist. Im jüngsten Rimini-Projekt (Regie: Helgard Haug) stehen sechs Laien auf der Bühne vor einem riesigen Regal aus Sperrmüll und berichten von ihren persönlichen Erlebnissen mit Mein Kampf, während dezent Stille Nacht erklingt und der Kuckuck aus der Kuckucksuhr trötet. Eine Juristin erzählt also, wie sie 1965, als Vierzehnjährige, Passagen aus dem Buch abtippte, ein „Best of“ quasi, und in gehefteter Form ihren sozialdemokratisch gesinnten Eltern zu Weihnachten schenkte. Ein türkischstämmiger Rapper erklärt, dass „Best of“ auf Türkisch tatsächlich „hit ler“ heiße, und ein israelischer Jurist (diese Berufsgruppen ist überrepräsentiert) erzählt, wie er vor 20 Jahren mit einer deutschen Touristin in der Strandbar anbandeln wollte, indem er Mein Kampf auf den Tisch legte und ihr vorschlug, gemeinsam daraus zu lesen – ein Flirtversuch, der naheliegenderweise kläglich scheiterte.

Erstaunlich, wie die Mischung aus Betulichkeit, Authentizität, Spielfreude und Peinlichkeit, die fürs Laientheater ja typisch ist, genau jene linkisch-überlegene, verdruckst-ironische Haltung spiegelt, die wir heute nicht nur zur fraglichen Propaganda-Schwarte des „Führers“ einnehmen, sondern zum gesamten Überbau des Faschismus.

Aus der Vergangenheit in eine Zukunft, wo Menschen vorwiegend in der virtuellen Realität leben, führt die Schauspiel-Choreographie Yesterday you said tomorrow, die im Werkraum („Kammer 3“) der Kammerspiele uraufgeführt wurde. Eine klassische Schöne-neue-Welt-Dystopie, produziert von der Truppe GIESCHEand um Alexander Giesche (Regie). Das Stück aus einer „Ohne-Worte-Welt“ kommt fast ganz textfrei daher. Man sieht drei Personen im sterilen Appartement mit weißem Sofa und Topfpflanze: ein älterer Mann (Peter Brombacher), eine jüngere Frau (Katja Bürkle) und ein noch jüngerer Mann (Damian Rebgetz), vielleicht der Vater mit zwei erwachsenen Kindern, aber das ist egal, denn menschliche Beziehungen gibt es in der Zukunft, die hier ausgemalt wird, nicht mehr.

Wie eine fensterlose Monade lebt jeder mit der klobigen Cyber-Brille auf dem Kopf in seiner eigenen virtuellen Realität. Immer wenn einer mal die Brille abnimmt, blickt er die anderen beiden, die nichts von der Außenwelt mitkriegen, verdutzt und ratlos an, um schnell selbst wieder die Illusionsprothese aufzusetzen. Das wirkt alles unerwartet komisch, aber rein inhaltlich bietet diese fein inszenierte Edelpantomime konservative Kulturkritik par excellence. Frappierend die Leistung der Schauspieler, die es schaffen, mit bloßem Rumlungern unsere Aufmerksamkeit zu erregen.

Ob Lilienthals Spielzeit-Start das Ereignis der Saison war, sei dahingestellt. Aber vielleicht muss man hier ohnehin mal mit der Illusion aufräumen, Intendanten hätten heute noch allzu große Spielräume für ihre „künstlerische Handschrift“. Um ihr jeweiliges Haus in der obersten Liga zu halten, haben sie keine andere Wahl, als eben die hochkarätigen Theatermacher zu holen, die, wie die Sänger im Opernbetrieb, an allen anderen ersten Häusern auch arbeiten, sodass deren Profile sich immer mehr angleichen. Um da noch auf dem Markt der Aufmerksamkeit zu punkten, brauchen Intendanten wie alle anderen Kulturmanager mittlerweile vor allem Marketing-Begabung. In der Hinsicht scheint Lilienthal erste Wahl. Wie man Posen der Devianz fürs „Branding“ nutzt, weiß er. Aber ist Theater nicht genau das, die Kunst des äußeren Scheins? Na also, passt scho. (Alexander Altmann) (Sibylla Flügge und Aron Kraus (v.l.) in dem Stück „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“; Peter Brombacher, Damian Rebgetz und Katja Bürkle (v.l.) in „Yesterday you said tomorrow“- Fotos: Candy Welz / Gabriela Neeb)

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