Kultur

Detail aus "Beerdigung und der Halbmond" von Ibrahim El-Salahi, einem Mitglied des Kollektivs Madrasat Al-Khartoum Al-Kristalliyyun. Die kopmplette Ansicht finden Sie im Beitrag unten. (Foto: VG Bild-Kunst)

18.02.2022

Gemeinsam und doch individuell

Das Münchner Lenbachhaus zeigt Arbeiten von Kunstkollektiven aus verschiedenen Erdteilen

Paris, Berlin sowieso, aber auch Tokio und Mumbai: In diesen Metropolen ist es nachvollziehbar, dass sich im 20. Jahrhundert Künstlerkollektive gebildet haben. Aber der Film im Münchner Lenbachhaus und am Beginn der Ausstellung Gruppendynamik – Kollektive der Moderne führt in einen schwarzafrikanischen Hinterhof voll von Kunst, wo Künstlerinnen und Künstler durch ein Mobile von T-Shirts und zwischen zusammengeschnürten Wasserkanistern schlendern, wo Erinnerungen an den kongolesischen Freiheitshelden Patrice Lumumba lebendig sind und wo gefordert wird: „Kaviar für die Schwarzen!“

Die Perspektive wechseln

Das Lenbachhaus will erkunden, „welche Arbeits- und Wirkungsweise künstlerische Kollektive der Moderne weltweit auszeichneten“. Und so gibt es im Rahmen eines bundesweiten Projekts in einem Saal eine Art Schnittmuster, das Verbindungen aufzeigen soll, es gibt Karteikarten, mit denen man einen Hefter füllen kann. In erster Linie wird man mit einer radikalen Abkehr von der Euro- und US-Zentriertheit konfrontiert. Damit will das Lenbachhaus eintreten für eine neue, global orientierte Kunstgeschichtsschreibung, für die Begegnung mit autochthonen Kunstansätzen, wie sie in Kollektiven kumuliert sind.

In Europa gab es solche Kollektive mit gruppendynamischen Prozessen besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Künstlerkolonien wie Barbizon und schon Jahrzehnte vorher auf Frauenchiemsee. Anderswo hatten zu dieser Zeit Kolonialismus und Imperialismus die Weltteile überrollt. Die Eroberer waren in Sachen Kunst nur an alter Stammeskultur interessiert und haben diese in ihre Völkerkundemuseen verfrachtet.

Erst nach Umwälzungen wie der Mao-Zeit in China, mit den afrikanischen Befreiungsbewegungen und der Selbstständigkeit Indiens fing dort das in Kollektiven an, was das Lenbachhaus dokumentiert – auch mit den eigenen Beständen vom Blauen Reiter. Natürlich kann man diese Gruppe nicht links liegen lassen, wenn es um Kollektive geht, und man wird sich zu einem weiteren Besuch am Königsplatz und der „Reiter“-Parallelausstellung entschließen müssen.

Auch ein abermaliger Besuch der Ausstellung Gruppendynamik lohnt: Die Fülle der außereuropäischen, fremden Namen, Orte, Kunstkollektive ist faszinierend genug, sie ist voller Farben und führt einen auf einer dieser Schnittmusterlinien im Anschluss an den afrikanischen Hinterhof zum Lahore Art Circle und der Bombay Progressive Artists’ Group, und damit auch zur ersten Überraschung aus Indien: „Das ist doch Bernard Buffet!“, denkt man sich. Ist dieses Gemälde natürlich nicht, sondern ein Kopf von F. N. Souza (1958), der für die Gruppe aus Bombay der „intellektuelle Kopf“ und für Indien ein Vorkämpfer der Unabhängigkeit war. In diesem Kabinett findet man auch, was man sich unter „Indien“ vorgestellt hatte: die Dorfbewohnerin von M. F. Husain, der sogar bei der Biennale in Venedig ausgestellt hatte und Maler von Filmplakaten war.

Die religiöse Spaltung Indiens zwang Husain nach London ins Exil – da war Schluss mit dem einigenden Kollektiv. In diesem trafen das soziale Elend als Motiv, Kubistisches, Abstraktes und wilde Farbexplosionen aufeinander.

„Kultureller Kannibalismus“

In den Ausstellungsvitrinen liegen Dokumente, die Gemeinsamkeiten der Kollektive belegen. Auch Manifeste wie im Kabinett „Brasilien“ das „Manifesto Antropófago“, was „künstlerisch-kultureller Kannibalismus“ ist und die Forderung aufstellt: „Wir wollen die karibische Revolution!“ So etwas gab es mit deutschen Gruppen wie der Spur zu Zeiten der Studentenrevolte Anfang der 1960er-Jahre.
Die Vielfalt innerhalb der außereuropäischen Kollektive scheint größer als in den europäischen Zusammenschlüssen. So stellt Brasiliens „Grupo dos Cinco“ hübsche realistische Porträts aus, direkt daneben üppige Akte à la Botero und einen putzigen Markt mit Kugelbäumen und prallen Zitronen.

Man kann unmöglich die vielen klein gedruckten Texte lesen, es gibt dafür aber einen Leseraum mit ausgelegter Literatur. Irgendwie bleibt der Eindruck notwendigerweise löchrig, schafft aber doch ein Bewusstsein von weltweiter Kunst im Kollektiv, von deren Stärken und Schwächen, von Regionaltypischem oder wie sich in einem Individuum Verschiedenes aus dem Kollektiv zusammenfindet. Erschöpft kommt man im „Distribution“-Saal mit seinen Schnittmustern an. Ganz am Rande steht da auch Kandinskys Der Blaue Reiter und man fühlt sich inspiriert, anzuschauen, was Kandinsky mit „Gegensatz und Widersprüche – das ist unsere Harmonie“ meinte.(Uwe Mitsching)

Information: Bis 24. April. Städtische Galerie im Lenbachhaus, Luisenstraße 33, 80333 München. Aktuelle Öffnungszeiten unter www.lenbachhaus.de

Abbildung: Beerdigung und der Halbmond von Ibrahim El-Salahi, einem Mitglied des Kollektivs Madrasat Al-Khartoum Al-Kristalliyyun.   (Foto: VG Bild-Kunst)

 

 

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