Die 39. Bayerischen Theatertage laufen auf vollen Touren. Noch bis zum 16. Juni gibt es allerlei Schmackhaftes aus einer Art dramaturgischer Pralinenschachtel zu verkosten, ausgewählt von einer Fachjury und dargebracht auf den Bühnen des Stadttheaters Ingolstadt.
Von Staatstheater bis kleine, unabhängige Bühne: Der Blick richtet sich auf vieles. Wie notwendig Theater ist, zeige sich gerade in jenen Zeiten, in denen es für die Verteidigung der demokratischen Werte steht: Das war der Tenor bei der Eröffnung der Theatertage im Großen Haus des Ingolstädter Theaters. Unter dem Motto „Bayern spielt“ geht es um die Vielfalt des Spiels und des großen Potenzials von den Möglichkeiten der Kommunikation außerhalb von Meinungsblasen.
Ein Beispiel dafür, wie gutes Theater gelingt, war gleich bei der Eröffnungspremiere mit einer hauseigenen Inszenierung des Stadttheaters Ingolstadt zu erleben: eine deutschsprachige Erstaufführung mit den Titel Haus ohne Ruhe - eine Überschreibung der Aischylos-Trilogie Orestie durch die schottische Autorin Zinnie Harris. Es ist der Idealfall einer Überschreibung eines alten Textes, der zeigt, was an ihm zeitlos ist. Aischylos ging es um Fragen wie Entscheidungsfreiheit versus göttergewolltes Schicksal, um Rache versus Vergebung, um Schuld und Sühne – das alles verhandelt in einer Königsfamilie, in der erst der Vater die Tochter opfert, dafür dann ermordet wird, wofür die Mörder wiederum mit ihrem Leben büßen müssen. Ist diese Familie verflucht?
Zinnie Harris hat diese uralten, urmenschlichen Fragen und Themen um Liebe und Hass, Mord und Vergebung wieder aufgenommen, den Stoff genutzt und umgeschrieben. Ein enorm eindringlicher, spannender Theaterabend: Wenn man bedenkt, dass die inhaltlich üppige, kraftvolle, raumgreifende Inszenierung durch Jochen Schölch am zwar fünf Stunden dauerte, aber dennoch keine Minute zu lang wirkte, wird man schon erahnen können, wie beeindruckend sie war. Denn Harris, Schölch, Gewerke und Ensemble erzählen eine immergültige Geschichte mit neuen, gegenwärtigen Perspektiven. So wird mit einer literarischen Überschreibung auch eine Überschreibung in den Publikumsköpfen erreicht – eine beispielhafte Erinnerungsarbeit gewissermaßen.
Harris setzt zwei Schwerpunkte. Zum einen geht es darum, dass sie das blutige Rachegeschehen im Stück als konsequente Folge männlichen Gewalthandelns schildert. Nachdem ihr Mann Agamemnon die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert hat, um als potenzieller Held in den Trojanischen Krieg ziehen zu können, bringt ihn seine Frau Klytämnestra nach seiner Rückkehr um. Später tötet ihre Tochter Elektra diese ihre Mutter. Die Opfer männlicher Gewalt als Wurzel sämtlicher Schieflage nehmen sich das Recht zur Rache; bei Aischylos ist das schon angelegt, bei Harris noch konsequenter umgesetzt. Danach aber zerstört die Schuld die Frauen in ihrem Innersten.
Harris übersetzt all die Fragen um Schuld und Sühne in den Raum einer Klinik, in der Elektra behandelt wird und übersetzt Mythologie in Psychiatrie. Da werden die Rachegeister der Erinnyen zu paranoiden Wahnvorstellungen, wird der Fluch der Familie zu einem Trauma aufgrund innerfamiliärer Gewalterfahrung. Ein Freispruch gelingt nicht, weil Erinnerungen immer bleiben. Eine große Geschichte, groß gemacht auch durch die großartige Inszenierung in Ingolstadt. Und ein Beispiel dafür, wie lang zurück die Tradition des Theaters reicht und wie absolut heutig sie zugleich ist. (Christian Muggenthaler)
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