Kultur

Marja Hennicke, Thomas Hermanns, Andreas Zaron und Ensemble. (Foto: Pedro Malinowski/Staatstheater Nürnberg)

20.12.2021

Kampf für mehr Body-Mass-Index

Musical "Hairspray" am Staatstheater Nürnberg

Ausgerechnet zu Weihnachten, zu Gänsebraten und Christstollen bringt das Staatstheater Nürnberg ein Musical auf die Opernhausbühne, in dem ein molliges Mädchen um seine Menschenrechte kämpft. Zumindest dafür, dass sie trotz Übergrößen auch am Casting für eine Fernseh-Show und um den Titel einer „Miss Teenage Hairspray“ kämpfen darf. Nicht heute, sondern vor überschlägig sechzig Jahren, zu Zeiten der Mc-Carthy-Kommunistenjagd, der Jacky-Kennedy-Ikone und eines Frauenbilds, das sich zwischen der bügelnden Mama und einer zaundürren TV-Produzentin erfüllt. Tracy Turnblad heißt das Mädel von der High School, trägt – curvy wie sie ist – lieber einen Faltenrock statt Petticoat, auf jeden Fall aber eine hochtoupierte Farah-Diba-Frisur. Die wird, genauso wie die Elvis-Tollen der Jungs, unaufhörlich in Form gesprayt.

Harold Wheeler und Marc Shaiman hatten, basierend auf einem Film von John Waters, damals ein Musical aus der rührenden Geschichte gemacht, Melissa King hatte als führende Musical-Spezialistin in Deutschland, das jetzt für Dortmund ausgegraben, in Nürnberg  aufgepeppt, inszeniert, choreografiert und nach Franken exportiert. Dort wird  derzeit ohnehin viel demonstriert, auf der Opernhausbühne tut’s Tracy jetzt auch -  nicht nur für füllige Kurven, sondern auch dafür, „dass wir nicht alle zusammen tanzen dürfen“. Damit meint sie ihre weißen und schwarzen Freunde, Schwule und Queere, Dick und Dünn. Und weil man damals demonstrierende „Querulanten“ und „kommunistische Gören“ gar nicht mochte, wandert sie dafür sogar in den Knast. Und das in Baltimore, Maryland. Da, und nicht nur in den Südstaaten der USA, war es zu Tracys Zeiten gar nicht so kuschelig wie auf dem Fernseh-Sofa bei ihr zuhause: Rassenunruhen auch an der Ostküste, Taxis, die nicht in „schwarzen“ Viertels hielten, Weiße, die ihre Haustür mit fünf Schlössern sicherten, wenn sie nicht überhaupt in „gated communities“ umzogen. Da war  viel Widerstandsbedarf gegenüber Schuldirektoren, Cops, zickigen Quietschenten-Mitschülerinnen oder dem TV-Establishment. Denn es galt: „Der Preis ist heiß – und weiß“, und  danach wurden in der „Corny Collins Show“ die Engagements vergeben.

Nach der wegen Corona abgesagten Nürnberger Premiere und vor der offiziellen First Night nach Weihnachten war jetzt eine Preview von „Hairspray“ samt Generalprobe. Da klappte  im rasant wechselnden Bühnenbild von Knut Hetzer und mit der schmissig spielenden Staatsphilharmonie unter Andreas Paetzold  alles perfekt: in sich während der drei Stunden steigerndem Temperament und Tempo, in immer mehr Farben von Konfetti und Pailletten und mit dem Besetzungs-Clou aus Dortmund: Comedian Thomas Hermanns als bügelnder Kittelschürzen-Mum und „Hausfrau von undefinierbaren Dimensionen“, der/die am Ende als glitzernde Drag Queen aus der überdimensionalen Spray-Dose in das hinreißend ausstaffierte Finale schreitet. Da hatte man besonders über dem flotten zweiten Teil und seiner Musik einige quälende Längen zuvor vergessen, einiges schreckliche Gereime („Sag’s deiner Mutter, alles ist in Butter“) und einigen Glöckchen-Klingeling-Kitsch. Denn aus dem „body shaming“ von Tracy war selbstbewusste „body positivity“ geworden („Ich liebe mein Gewicht“), aus schwulen Drückebergern ein sich öffentlich herzendes Pärchen und „butterball“ Tracys Wunsch hat sich erfüllt: Alle dürfen zusammen tanzen. Da hatte sich der Martin Luther King- als Tracy Turnblad- „Traum“ erfüllt und ist Wirklichkeit geworden, was „Motormouth Maybelle“ mit dem röhrenden Alt von Deborah Woodson als Parole ausgegeben hatte: „Eines Tages ist die Freiheit da.“ Tracys in der authentischen Besetzung durch Marja Hennicke wird zur „Miss Hairspray“ und realisiert sich den „amerikanischen Traum“. Mehr „positivity“ geht nicht, und der frenetische Preview-Applaus im Feuer der Konfetti-Kanonen zeigt: 25 Prozent Platzkapazität werden an Silvester nicht reichen.
(Uwe Mitsching)

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